■ Der türkische Schriftsteller Aziz Nesin weist Rushdies Kritik zurück und fordert die türkischen Politiker heraus: „Es ging nicht um Rushdies Buch“
Der 78jährige türkische Schriftsteller Aziz Nesin, gegen den türkische und iranische Mullahs Todes-Fatwas erlassen haben, wäre bei dem Brandanschlag im zentralanatolischen Sivas, bei dem 37 Menschen ums Leben kamen, beinahe auch getötet worden. Das folgende Interview mit Nesin, dem wohl am meisten gelesenen Schriftsteller der Türkei, wurde in der Nesin-Stiftung für Waisenkinder geführt. In einem thrazischen Dorf lebt der Schriftsteller dort zusammen mit 28 Kindern.
taz: Salman Rushdie hat unmittelbar nach dem Massaker im zentranatolischen Sivas im Observer schwere Beschuldigungen gegen Sie erhoben. Er sprach von „literarischer Piraterie“, weil ohne seine Zustimmung Auszüge der „Satanischen Verse“ in der türkischen Tageszeitung Aydinlik erschienen waren. Er beschuldigte Sie der Provokation und kommentierte die blutige Brandstiftung der islamischen Fundamentalisten folgendermaßen: „Nesin und seine Verbündeten wollten die Angelegenheit auf die Spitze treiben. Jetzt, scheint es, ist es ihnen besser gelungen, als sie beabsichtigt hatten.“ Doch später in einem Interview, das am Wochenende in der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet und in der FAZ erschien, schlug er versöhnliche Töne an. Er will Frieden mit Ihnen schließen und lädt sie nach London ein.
Aziz Nesin: Ich bin über den Sinneswandel von Rushdie nicht verwundert. Schließlich hat er schon manche Wendungen hinter sich. Er hat auch schon Chomeini um Vergebung gebeten. Chomeini erwies sich als aufrechter als Rushdie. Er hat ihm nicht vergeben. Daraufhin machte Rushdie wieder eine Wende. Wieder war er der Demokrat. Aufgrund dieser Ereignisse habe ich mein Vertrauen in Rushdie verloren. Sein Widerstand gegen Khomeini, dann die Bitte um Vergebung: All das kommt mir verlogen vor.
Rushdie beschuldigt Sie der Piraterie...
Als wir die Rechte für die türkische Ausgabe der „Satanischen Verse“ erwerben wollten, hat Rushdies Literaturagent uns einen groben Brief geschickt. Da wird nach unseren Motiven gefragt. Der Brief erinnert an staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren. Ich bin nicht verantwortlich dafür, daß Aydinlik vorab Auszüge der „Satanischen Verse“ abdruckt. Rushdie will es immer noch nicht in den Kopf, daß ich nicht Chefredakteur der Aydinlik bin, sondern Chefkolumnist. Ich befand mich übrigens zu dem Zeitpunkt in Deutschland. Doch hätte ich mich in Istanbul aufgehalten, hätte ich für den Abdruck votiert. Die lange Auseinandersetzung hat bei mir folgenden Eindruck erweckt: Rushdie mimt die Rolle des echten Briten, der die Türkei für seine Kolonie hält. Rushdie und sein Literaturgagent haben unverschämte Briefe geschickt und Fragen gestellt, die nichts mit höflichen Umgangsformen zu tun haben. Wir werden Rushdies Autorenrechte bezahlen. Es kam zu keiner Einigung, weil er das Buch auf türkisch nicht veröffentlichen wollte. Die Gerichte werden über das weitere Vorgehen entscheiden.
In Europa entstand zuweilen der Eindruck, daß die islamischen Fundamentalisten in Sivas wegen Ihrer Ankündigung, das Buch Rushdies zu veröffentlichen, das Massaker verübten.
In Sivas ging es eigentlich nicht um Rushdies Buch. Alle republikanischen Regierungen nach Mustafa Kemal (türkischer Staatspräsident von 1923 bis 1938, A.d.R.) sind schuldig und tragen Verantwortung für das, was in Sivas passiert ist. Alle Regierungen haben Konzessionen an die islamischen Fundamentalisten, an die Reaktionäre gemacht. Nehmen wir den jetzigen Innenminister. Nach dem Massaker in Sivas versucht er einen Schuldigen zu finden. Da rufen Massen „Wir wollen die Scharia“, „Allahüekber“ „Moslemische Türkei“. Das alles sieht er nicht. Er macht die Schuld in der Rede eines Schriftstellers aus. Das heißt Zugeständnisse machen. Lieb zum Volk sein, um Wählerstimmen einzufangen. In Sivas ging es um Rushdies Buch nur insofern, als die Menge unter Anspielung auf die „Satanischen Verse“ „Satan Aziz, Satan Aziz“ schrie.
Warum wollen Sie das Buch trotz Ihrer Antipathie für Rushdie veröffentlichen?
Ich sage es immer wieder. Falls Chomeini das Buch nicht mit einer Todes-Fatwa beantwortet hätte, hätte es nicht die Bedeutung erlangt, die es heute hat. Rusdies Buch ist für mich ein Mittel. Es geht darum, gegen den antisäkularen Kurs in der Türkei und gegen das Verbot von Büchern anzukämpfen. Ich werde jetzt eine Petition an die türkische Regierung richten. Das Publikationsverbot der „Satanischen Verse“ ist antidemokratisch und verfassungswidrig, weil es das Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt. Falls die Regierung die Veröffentlichung trotzdem verbietet, werden wir das Buch im Untergrund vertreiben, dem „Samisdat“ in der ehemaligen Sowjetunion vergleichbar. Nagib Mahfuz, der einzige Literatur-Nobelpreisträger in der islamischen Welt, hat das Buch „Die Kinder unseres Viertels“ verfaßt. Es ist literarisch bedeutender als die „Satanischen Verse“. In Ägypten ist das Buch verboten worden. Auch die „Kinder Medinas“ wollen wir auf türkisch veröffentlichen.
Auch Bücher des Fundamentalisten Cemalettin Kaplan, der in Köln lebt, sind in der Türkei verboten. Jüngst hat er die Moslems aufgefordert, Sie zu töten. Sind Sie auch gegen das Verbot seiner Publikationen?
Nein. Kaplan ruft zum Mord auf. Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden gepriesen. Faschistische Literatur, Propaganda für Verbrechen gegen die Menschlichkeit darf nicht gedruckt werden.
Nach dem Massaker in Sivas bezichtigte Sie der Innenminister der „Provokation“, nach einem Kabinettsbeschluß sind Ermittlungen wegen ihrer Rede auf dem Kulturfestival eröffnet worden...
Der Innenminister ist ein Lügner. Ich habe in Sivas vor 1.200 Menschen geredet. Ich habe großen Applaus im Saal geerntet. Soll man doch die Teilnehmer fragen, ob ich sie provoziert habe. Noch bevor er die Rede kannte, hat der Innenminister mich als einen Provokateur hingestellt. Ich habe den gesamten Wortlaut der Rede im nachhinein im Cumhuriyet gelesen. Ich habe wider meine Natur sehr sanft gesprochen. Der Innenminister als Hauptverantwortlicher wird früher oder später zurücktreten müssen.
Es geht um die Passagen, wo Sie sich als Atheisten bezeichnen und sagen: Warum soll ich an den 1.300 Jahre alten Koran glauben?
Dies ist meine persönliche Meinung. Ich zwinge keinem meine Meinung auf.
Ist der Fundamentalismus tatsächlich eine Gefahr für die Türkei, die ja verfassungsrechtlich ein laizistischer Staat ist?
Die Herrschenden sind doppelzüngig. Sie wenden sich nach Osten und sind Moslems, sie wenden sich nach Westen und sind laizistisch. So etwas geht nicht. Ich glaube, die Lösung des Problems liegt darin, daß jede religiöse Richtung Autonomie erhält. Falls Christen einen Priester oder Moslems einen Imam ausbilden – sollen sie tun, was sie wollen und auch für ihre Religionsmänner aufkommen. Das „Amt für religiöse Angelegenheiten“, das einem Minister unterstellt ist, muß aufgelöst werden. Die Sunniten, die Alewiten, die Christen – sie alle können Körperschaften bilden. Auch die Atheisten. Doch der Staat darf nicht in ihrem Auftrag Steuern einkassieren. Alle diese Glaubensrichtungen müssen sich in einer Demokratie mit Toleranz begegnen. Dies ist mein Projekt.
„Die Fundamentalisten in Sivas, die Skinheads in Deutschland“ war eine bestimmende Parole auf den Beerdigungen. Was haben islamischer Fundamentalismus, Rassismus und Nationalismus gemein?
Wo es Religion und Nationalismus gibt, dort gibt es Krieg. Jede Religion hat ein Aggressionspotential. In Bosnien massakrieren Christen Moslems. In Indien stecken Buddhisten moslemische Gotteshäuser in Brand. Im Namen Moses werden Verbrechen begangen. Religion ohne Religionskrieg gibt es nicht. Kriege haben wirtschaftliche Ursachen. Doch dafür kann man die Menschen nicht aufs Schlachtfeld führen. „Mein Nachbar hat fruchtbare Felder, laßt uns marschieren“ funktioniert als Losung nicht. Für Gott und Vaterland kämpfen sie und kassieren nebenbei die Felder des Nachbarn ein. Die Waffenfabrikanten gewinnen in jedem Fall.
Sie sind jemand, der immer wieder im Mittelpunkt politischer Auseinandersetzung steht. Wie hat sich Ihr politisches Engagement auf Ihr Schreiben ausgewirkt?
Es hat böse Auswirkungen auf das Schreiben gehabt. Mehrere Theaterstücke stehen an, unzählige Notizen warten darauf, bearbeitet zu werden. Der Schrank ist voll mit unvollendeten Manuskripten. Literatur braucht einen langen Atem. Politik ist kurzatmig und beraubt mich meiner Zeit. Politik ist nicht meine Sache. Ich will schreiben. Aber gerade nach dem Militärputsch 1980 haben viele geschwiegen. Deshalb habe ich die Initiative ergriffen. Als die Militärs die türkischen Universitäten gleichschalteten, gründeten wir ein alternatives Bildungsforum. Das Schweigen beunruhigt mich zutiefst. Interview: Ömer Erzeren
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