■ Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse zu Rechtsextremismus und zum Zustand der Nation: „Wo lernt man denn heute noch, daß man Menschen nicht anzündet?“
taz: Herr Thierse, den Einwohnern von Dolgenbrodt wird vorgeworfen, Rechtsradikale für den Anschlag auf das örtliche Asylbewerberheim bezahlt zu haben. Ist damit eine neue Qualität von Rechtsextremismus erreicht?
Wolfgang Thierse: Das Bestürzende an Dolgenbrodt ist das Moment von Normalität. Rechtsradikale können sich offenbar wie Fische im Wasser bewegen. Da gibt es einen diffusen Untergrund einer kleinbürgerlichen, anständigen Normalität, aus der Zustimmung, Deckung, Vedrängung, Verschweigen kommt oder mehr. Die Rechtsradikalen exekutieren in einer Art von osmotischem Prozeß nur noch eine Emotion, die ohnehin in der Bevölkerung da ist.
Was sind die Ursachen für eine solche Atmosphäre?
Erstens: die spezifische soziale und kulturelle Prägung, die aus der DDR-Geschichte kommt. Zweitens: der traumatische Anpassungsprozeß, eine tiefe Verängstigung und Verunsicherung, die sich ihr Objekt sucht. Dies geschieht über Entlastungsabfuhr durch Vorwürfe nach außen, sprich: die Politiker sind schuld. Oder durch Aggressivität gegenüber Schwächeren. Ich will damit Dinge wie Dolgenbrodt nicht rechtfertigen, es ist moralisch unanständig und politisch katastrophal. Doch müssen wir Erklärungen finden und den Ursachen nachgehen.
Warum ist ausgerechnet Ausländerfeindlichkeit die Konsequenz auf Verunsicherung?
Ausländerfeindlichkeit ist ein Klischee. Sie wird nicht durch Ausländer erzeugt, sondern durch einen sozialen und psychologischen Prozeß der Verängstigung, das Gefühl der totalen menschlichen – und in Dolgenbrodt auch materiellen – Entwertung. In diesem Zustand bedeuten Ausländer pauschal Gefahr: Ausländer sind Kriminelle. Die Leute sind voller Abwehr, bevor sie auch nur einen zu Gesicht bekommen haben.
Das alles klingt so verständnisvoll, der Ausländerhasser als Opfer des gesellschaftlichen Umbruchs. Muß man nun Mitleid haben mit den verängstigten Bürgern, die aus lauter Unsicherheit zu Rassisten werden?
Das ist immer das Mißverständnis: Ich versuche doch nicht zu rechtfertigen, sondern zu erklären. Es muß einem doch zu denken geben, wenn stinknormale Bürger, sogenannte normal-anständige Deutsche, bereit sind, einer Gewalttat zuzustimmen. Die Geschichte lehrt, daß Menschen in großer sozialer Gefährdung und psychologischer Verängstigung in besonderer Weise verführbar sind, in einer besonderen Weise zu Aggressivität neigen.
Die Dolgenbrodter schieben die Schuld auf die Politiker.
Das ist ein typisches Klischee, aus Enttäuschung erwachsen, das ich entschieden ablehne. Danach bin ich gerne bereit, konkret weiterzufragen: Haben die zuständigen Politiker die Bürger genügend vorbereitet? Haben sie sie mit einbezogen? Ich sehe es schon als Aufgabe der Politiker an, Lernprozesse zu organisieren, die zur Entängstigung beitragen.
Ist also Ausländerfeindlichkeit ein Normalzustand, mit dem zivil umzugehen man mühsam erlernen muß?
Ob das ein Normalzustand ist oder nicht, ist zweitrangig. Fakt ist, daß wir von dieser Realität ausgehen müssen, und nicht nur in der Ex-DDR. Mich bestürzt viel mehr, daß es in Westdeutschland eine gleich starke manifeste Ausländerfeindlichkeit gibt, und das nach vierzig Jahren Demokratie, nach dreißig Jahren Umgang mit Ausländern.
Wie kann man entängstigen, wenn die Angst Klischee ist und bar jeder Erfahrung?
Angst ist immer irrational. Man kann sie nicht wegbefehlen, nur ernst nehmen. Vielleicht, indem man den Ausländern wieder Gesicht gibt, denn nur anonym taugen sie als Feindbilder. Wir müssen den Bürgern sagen, wer die Fremden sind, welche Geschichte sie haben, welchen Verfolgungen sie ausgesetzt sind.
Die Politik hat mit der Asyldebatte genau das Gegenteil getan.
In einem Gesetzeszusammenhang passiert zwangsläufig ein Abstraktionsprozeß. Aber natürlich: Politiker und Journalisten haben aggressive Reden geschwungen. Ängste wurden geschürt, anstatt sich um eine differenzierte Form der Wahrnehmung zu bemühen, die die Ausländer und ihre Geschichte vertraut machen.
Das Problem in Dolgenbrodt war gerade nicht die Gesichtslosigkeit: Die Bürger haben sich explizit gegen bestimmte Ausländer ausgesprochen. Rußlanddeutsche hätten sie genommen, Bosnier auch, aber „Zigeuner“ nicht.
Der „Zigeuner“ symbolisiert eine Grundfigur: Es sind Menschen von einer besonderen Fremdheit, denen man ein besonderes Ausmaß an Asozialität, Kriminalität, kultureller Irritation zuordnet. Es ist auch ein sozialer Rassismus, der da stattfindet.
In Dolgenbrodt sucht man Unrechtsbewußtsein vergebens.
Was dort passiert ist, zeugt von perverser, undemokratischer Demokratie. Sie machen eine Bürgerversammlung, einigen sich auf ihr Gruppeninteresse, nennen das dann Bürgerinitiative und Basisdemokratie. Das ist eine Pervertierung von Elementen des Aufbruchs von 1989, die einen schon entsetzt. Doch auch das ist Folge des Umbruchprozesses: Man muß erst lernen, was das Wesen eines Rechtsstaates ist, daß Recht auch formales Verfahren ist. Etwas, was man akzeptiert und dem man sich unterwirft.
Ist es wirklich so schwer zu begreifen, daß es unrecht ist, ein Asylbewerberheim anzuzünden?
Jetzt kommen Sie wie Gysi, der sagt, daß man nicht lernen muß, daß man Menschen nicht anzündet. Aber wo, bitte schön, lernt man so was? Wo lernt man heute noch, daß man einen Menschen nicht umbringen soll? Daß man nicht lügen soll? Wo lernt man das? Die gesellschaftlichen Institutionen, die bislang Moral tradierten und übermittelten, leiden am Bedeutungsschwund: Familie als wichtigste Kategorie kultureller Sozialisation, Schule als Träger von Erziehung, Kirchen.
Diese Gesellschaft muß sich wieder eine Debatte über Erziehung leisten, wir müssen den Vorgang der Individualisierung selbstkritisch diskutieren. Der nämlich hat eine Kehrseite, und die heißt, verkürzt: Egoismus. Entfernung vom Gemeinwohl. Wir müssen individuelle Autonomie wieder zusammen mit Gemeinwohl definieren. Wir müssen über Träger sprechen, die Moral erzeugen. Die Politik verzehrt nur die Substanz, die sie selber nicht erzeugt: Werte und Moral. Sie ist also elementar darauf angewiesen, daß sie immer wieder neu aufgebaut wird.
Wer soll diese Debatte führen?
Das kann und darf nicht nur eine Sache von Politikern sein. Es muß eine gesellschaftliche Debatte sein, eine Debatte der zivilen Gesellschaft, die wir im Osten noch gar nicht haben. Wir haben zwar eine Demokratie, aber keine Bürger im Sinne von Citoyens.
Ist der Vereinigungsprozeß sozialpsychologisch gescheitert?
Ja. Er ist ein ökonomischer und emotional-psychologischer Scherbenhaufen. Es ist nicht geglückt, den Einigungsprozeß als eine identitätsstiftende Leistung zu praktizieren. Die Debatte beginnt gerade erst, und sie ist sehr verquer. Da braucht bloß ein Intellektueller das Stichwort von der Nation in den Mund zu nehmen, schon nehmen die anderen das übel, verdächtigen ihn des Rechtsradikalismus und stilisieren die Walserisierung der deutschen Intellektuellen zur Gefahr hoch. Daran sieht man, wie schwer wir uns tun, ein gelassenes Verhältnis zu uns selber wiederzufinden. Nicht zuletzt deshalb gibt es keinen Entwurf einer zivilen Vision für dieses gemeinsame Land, für diesen Nationalstaat.
Hätte es Ihrer Meinung nach eine Möglichkeit gegeben, dieses Verhältnis zu entkrampfen?
Der entscheidende Fehler ist trivial, und den hat Helmut Kohl begangen. Stellen Sie sich vor, er wäre im Dezember 1989 vor die Kameras getreten und hätte gesagt: Gott hat uns eine unerhörte Chance gegeben. Die deutsche Einheit ist möglich, die Befreiung für Osteuropa. Das ist ein Geschenk, das wir nicht ablehnen dürfen. Aber es wird unerhört schwierig werden. Und dann hätte er den Westdeutschen gesagt: Es wird Milliarden und Abermilliarden kosten, und ihr werdet Opfer bringen müssen. Alle hätten gesagt: Ja. Und den Ostdeutschen hätte er gesagt: Und ihr müßt wissen, es wird ganz lange dauern. Ihr braucht Geduld, es wird mühselig. Auch die hätten gesagt: Ja.
Er hat in beiden Fällen das genaue Gegenteil getan, hat gelogen, daß sich die Balken bogen. Er hat die Aufgabe verfälscht und damit die Atmosphäre verdorben. Es hätte ganz normal werden können, zu sagen: Wir haben eine gegenseitige Verpflichtung füreinander übernommen. Ich nenne das einen nicht-nationalen Begriff von Nation: eine Nation als Problemlösungsgemeinschaft. Interview: Klaus Hillenbrand
und Michaela Schießl
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