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Archiv-Artikel

■ Der „linkssozialdemokratische Traum“ von einer neuen Partei werde bald zerplatzen, kommentierte Pascal Beucker in der taz. Vor 25 Jahren wurde auch der Untergang der Grünen prophezeit, antworten Leser Predigt der höheren Moral

betr.: „Die neue Linkspartei ist in NRW zum Scheitern verurteilt. Der Alternative fehlt der Charme“, Kommentar von Pascal Beucker, taz vom 24. 1. 05

Déjà-vu? Vor 25 Jahren hat sich mit den Grünen eine „Alternative zu den Altparteien“ gebildet, die gerade das Thema Ökologie auf die politische Agenda gebracht hat. Zwar gab es in allen Parteien Umweltpolitiker und auch außerparlamentarische Proteste. Aber erst die grüne Wahlkonkurrenz verhinderte das Aussitzen dieser Proteste und zwang selbst die CDU zu einschneidendem Umweltschutz.

Heute scheinen die Themen der sozialen Gerechtigkeit eine ähnliche Rolle einzunehmen wie vor 25 Jahren die Ökologie. Massivste Proteste gegen Agenda 2010 und Hartz IV können von Schröder, Merkel & Co. ausgesessen werden – auch weil es keine Wahlkonkurrenz gibt, die ihnen Stimmen kosten könnte. Die PDS wird – allein – diese Rolle nicht spielen können, weil sie wegen ihrer Vergangenheit im Westen nicht gewählt wird und im Osten auch kaum über ihre Stammwählerschaft hinauskommt. Wenn die „Wahlalternative“ es schafft, über das Spektrum „frustrierter Ex-Sozialdemokraten“ hinauszukommen, könnte sie eine solche Wahlkonkurrenz bilden. Die Spitzenkandidatur eines Sozialpfarrers in NRW statt eines „frustrierten SPD-Unterbezirkskassierers“ könnte ein Zeichen dafür sein.

Befremden muss die Kritik vom Pascal Beucker an der Wahlalternative, nicht zuerst in einem Stadtstaat statt in NRW anzutreten: Es gibt dort keine Wahlen vor der Bundestagswahl 2006. Und was die Wahlaussichten in NRW betrifft: Die Grünen hatten 1980 bei der „Anti-Strauß-Bundestagswahl“ auch nur 1,5 Prozent, und die Wahlumfragen des letzten Sommers ergaben für die WA bis zu 15 Prozent. Viele Stimmen vor 25 Jahren klangen zur Gründung der Grünen auch nicht viel anders als jetzt die Stimmen zur WA/ASG. In diesen Chor muss die taz nicht einstimmen. HORST SCHIERMEYER, Zittau

Ach was, Herr Beucker, die WAsG war nach Meinung auch der taz vor kurzem noch heillos zerstritten, selbstdemontierend und jetzt auf einmal ordentlich, diszipliniert und deswegen ohne Charme? Worin, und vor allem für wen, besteht denn der Charme einer rot-grünen Politik, die große Teile der Bevölkerung in Armut und Entwürdigung zwingt, während zeitgleich der Spitzensteuersatz abgesenkt wird? Was ist aus der „Alternative“ geworden? Für was steht sie heute? Was beklagen Sie eigentlich? Dass 25 Jahre vergangen sind und etliche Grüne ihren Öko-Alternativ-Strickcharme gegen neoliberalen Nadelstreifen-Mainstream eingetauscht haben?

Die Ausführenden dieser Politik brechen den bestehenden Gesellschaftsvertrag einseitig und bauen an einem grundgesetzwidrigen, verfassungsfeindlichen Konstrukt, das entrechtete, entsolidarisierte, nomadisierende Tagelöhner hervorbringen soll, die aus Not, Angst und Scham alles mit sich machen lassen. Wohin dies führt, sehen Sie am verhängnisvollen Wiedererstarken der Rechtsradikalen.

Sie diskreditieren mit Ihren Zuweisungen „gealtert“ (Sie, for ever young?) und „frustiert“ den politischen Willen der Menschen, die diese menschenverachtenden Zustände nicht widerstandslos hinnehmen wollen. Freilich ist es trockener, über Mitbestimmung, Arbeitszeitbedingungen, Kündigungsschutz, EU-Verfassung, Bolkestein-Richtlinien und so weiter zu informieren, als über „charmante“ Themen (welche eigentlich?). Es setzt Sach- und Fachkenntnis voraus, die ich in Ihrem Beitrag vermisse.

Den Charme Ihrer Beiträge könnten Sie erhöhen, wenn Sie sich mehr den Inhalten der von uns vertretenen Politik zuwenden würden, anstatt boulevardesk auf die medientaugliche Verwertbarkeit zu schielen. HERBERT FRIEDL, Porta Westfalica

Schon der Titel des vorliegenden Kommentars macht deutlich, dass der Verfasser ausschließlich ästhetische Kriterien für die Beurteilung der Wahlchancen der neuen „Linkspartei“ zugrunde legt. Denn die Ausführungen über „gealterte Gewerkschaftsfunktionäre“ und „frustrierte SPD-Unterbezirkkassierer“ entbehren jeglichen politischen Inhalt. Der Vergleich mit den Grünen in ihrer Gründungsphase ist völlig verfehlt. Als fröhliche postmaterialistische Chaotentruppe sprachen diese damals eine bildungsbürgerliche Klientel an, die solche Auseinandersetzungen genussvoll als ästhetischen Gegensatz zum etablierten Politikbetrieb wahrnahm.

Heute geht es aber nicht mehr um linksbürgerliche Luxusthemen, die in endlosen Selbsterfahrungsdiskursen breit erörtert werden, sondern um die knallharten materiellen Probleme sozial ausgegrenzter Bevölkerungskreise. Es ist ja die Tragik der postmaterialistischen Linken der 80er-Jahre gewesen, dass sie als saturierte Mittelschichtsangehörige den Materialismus verabschiedeten und als Gutmenschen nur noch die höhere Moral predigten. Dass dieser Postmaterialismus in der Befürwortung der Agenda 2010 gipfelte, ist nur konsequent. Denn schließlich soll aus postmaterialistischer Sicht der Pöbel nicht „fressen und saufen“, sondern für „das Gute“ in der „Zivilgesellschaft“ wirken. Die Adressaten der neuen Partei sind nicht bildungsbürgerliche Postmaterialisten, deren ästhetisches Bedürfnis nach „charmanter Disziplinlosigkeit“ befriedigt werden soll. Dafür sind die Zeiten gerade für die „Modernisierungsverlierer“ zu hart! Hartz-IV-Opfer oder noch in Arbeit befindliche Arbeitnehmer, die mit Hartz IV zu Lohnverzicht und längeren Arbeitszeiten erpresst werden sollen, würden es nicht verstehen, wenn sich die neue Partei mit all dem sattsam bekannten postmaterialistischen Firlefanz der 80er-Jahre abgäbe, nur um die ästhetischen Bedürfnisse eines bildungsbürgerlichen taz-Redakteurs zu befriedigen.

Aber wie wäre es denn gewesen, wenn die neue „Linkspartei“ sich „charmant undiszipliniert“ dargestellt hätte? Dann würde derselbe Kommentator vielleicht schreiben: Da sieht man es mal wieder – typisches linkes Sektierertum! Man kann es den Leuten wirklich nie recht machen. FRIEDHELM GRÜTZNER, Bremen

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