Der große Vorschul-Streit

NUR DAS BESTE Wenn ihr Kind fünf Jahre alt ist, müssen Eltern in Hamburg entscheiden, ob sie es in der Kita lassen oder auf die Vorschule schicken. Sollen die Kinder möglichst früh das Schulsystem kennen lernen oder länger in der vertrauten Umgebung bleiben? Es gibt gute Argumente für beides

Im laufenden Schuljahr wurden rund 8.000 Kinder in Hamburger Vorschulen angemeldet. Im gleichen Zeitraum wurden rund 7.660 Kinder in Kitas sowie in der Kindertagespflege betreut

VON ANNE PASSOW

Hamburg ist das einzige Bundesland, in dem Eltern ihre Fünfjährigen entweder in die Vorschule schicken oder ein Jahr lang länger in der Kita lassen können. Welcher Weg davon der bessere ist, darüber streiten seit Jahren Verbände, Politik und Eltern. Während die Vorschulen darauf setzen, die Kinder spielerisch an das System Schule heranzuführen, werben die Kitas mit einem besseren Betreuungsschlüssel und mehr Freiräumen. „Kinder sollten so lange spielen wie möglich“, sagt zum Beispiel Björn Staschen vom Hamburger Landeselternausschuss Kindertagesbetreuung (Lea). Wichtig ist ihm vor allem, dass das Kind mit einer gefestigten Persönlichkeit eingeschult wird.

Und die vermittelt die Kita am besten, meint auch Claus Reichelt vom alternativen Wohlfahrtsverband Sozial und Alternativ (Soal): „Über das Spielen lernen Kinder, Dinge selbstbewusst in die Hand zu nehmen.“ Dafür bräuchten sie eine vertraute Umgebung, in der die Erzieher auf jedes Kind eingehen und es genug Raum für Freiheiten gebe. Und zwar möglichst lange. Schule mit fünf hält Reichelt für deutlich zu früh. Wenn es nach ihm ginge, würde, wie in Finnland, sogar erst mit sieben Jahren eingeschult.

Viel Zeit, in der sich Kinder entwickeln und wachsen können. „Denn für Kinder ist es auch sehr wichtig, einmal zu erfahren, dass sie die Großen sind“, sagt Martin Peters vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Hamburg. Dass die Fünfjährigen in der Kita auch inhaltlich gut auf die Schule vorbereitet werden, dafür hat er selbst gesorgt. Peters war Mitinitiator des Kita-Brückenjahres, das seit Herbst 2011 an über 500 Hamburger Kitas angeboten wird und den Übergang zur Schule mit verbindlichen Qualitätskriterien erleichtern soll.

Das Brückenjahr soll helfen, dass die Kita unter den Eltern als Bildungsstätte anerkannt wird. Denn viele Eltern hätten Angst, dass ihr Kind ohne Vorschulbesuch die Schule nicht schaffe, erzählt Claus Reichelt vom Soal. Einige Schulen machten gegenüber den Eltern sogar deutlich, dass der Besuch ihrer Vorschule wichtig sei, damit das Kind später an ihre Grundschule gehen könne. Diese Regelung gibt es zwar in Wirklichkeit nicht, doch „seitens einiger Schulen wird so ein enormer Bildungsdruck auf die Eltern aufgebaut“, kritisiert Reichelt.

„Unter Druck wird bei uns niemand gesetzt“, widerspricht Regina Schubert, Leiterin der Grundschule an der Gartenstadt in Hamburg-Wandsbek. Für sie ist klar: Die Eltern melden ihr Kind nicht aus Furcht an. Vielmehr bereite ihre Vorschule gut und kindgerecht auf die richtige Schule vor. Und das seit den 60er- Jahren. So lange bietet die Wandsbeker Grundschule Vorschulklassen an. Momentan werden dort 60 Vorschulkinder unterrichtet. Im nächsten Schuljahr soll eine weitere Klasse dazukommen und die Zahl der jungen Schüler auf 90 steigen.

Ein großes Interesse an der Vorschule in ganz Hamburg beobachtet auch Peter Albrecht von der Schulbehörde. Im Schuljahr 2012 / 2013 wurden rund 8.000 Kinder in Hamburger Vorschulen angemeldet. Im gleichen Zeitraum wurden rund 7.660 Kinder in den Kitas des Kita-Gutscheinsystems sowie in der Kindertagespflege betreut.

Die Gründe für das große Interesse an der Vorschule sind für Grundschulleiterin Schubert klar. „Der Vorteil ist, dass die Kinder das Schulgebäude, die schulische Struktur und die Lehrer kennenlernen.“ Sozialpädagogen und Lehrer könnten außerdem schon früh die Talente des Kindes erkennen und die Fünfjährigen in speziellen Kursen fördern – zum Beispiel in Mathematik oder Musik. „Wir haben mit unseren Sporthallen, Kunst- oder Musikzimmern auch bessere räumliche Möglichkeiten als eine Kita“, sagt Schubert. Psychologen und Beratungslehrer seien da, um sich um die emotionalen Probleme der Kinder zu kümmern. Schubert hat erfahren, dass ihre jungen Schüler sich auf die Vorschule freuen und gerne lernen.

Wegen dieser Vorteile zieht auch die grüne Ex-Schulsenatorin Christa Goetsch die Vorschule dem Kita-Angebot vor. Zumindest wenn die Grundschule ihre eigenen Vorschulkinder in die erste Klasse aufnehmen kann. Das aber ist nicht immer der Fall. Oft sind alle Plätze belegt und die Fünfjährigen müssen nach der Vorschule wieder auf eine andere Grundschule wechseln. Das darf nach Meinung von Goetsch nicht sein. „Es muss eine Einheit von Grundschule und Vorschule geben“, sagt sie.

Ob Kita oder Vorschule besser auf die erste Klasse vorbereitet, hängt nach Meinung von Gerrit Petrich von der Elternkammer Hamburg sehr stark vom einzelnen Kind ab. „Einige sind mit fünf Jahren schon bereit für einen Wechsel in die Schule, andere brauchen noch ein Jahr länger die vertraute Umgebung“, sagt er. „Es ist doch Luxus, dass Hamburger Eltern zwischen den beiden Formen auswählen können.“

In einer Auseinandersetzung, in der es nicht zuletzt auch darum geht, dass sowohl Vorschulen als auch Kitas ihre Plätze voll bekommen, wünscht sich auch Claus Reichelt vom Soal, dass Kitas und Vorschulen mehr aufeinander zugehen, sich in ihren Bildungsangeboten austauschen und sich weniger als konkurrierende Systeme wahrnehmen. „Im Interesse der Kinder“, sagt er, „muss es hier viel mehr Kooperation und viel weniger Konfrontation geben.“