: Der Wille zum Fremden
Die Lieder der italienischstämmigen Ägypterin Dalida wurden in den Sechzigerjahren sowohl in der arabischen als auch in der westlichen Welt zu Hits. Nun lässt der Schweizer Schriftsteller Franco Supino die 1987 gestorbene Diva in seinem neuen Roman „Ciao amore, ciao“ wiederauferstehen
VON PERIKLES MONIOUDIS
Was weiß der Orient vom Okzident? Was weiß umgekehrt der Okzident vom Orient? „Denn wenn wir wie andre meinen / Werden wir den andern gleichen“, hieß es zwar schon im west-östlichen Divan aus dem Munde des (westlichen) Dichters. Doch anderthalb Jahrhunderte später befand Edward W. Said in seinem Klassiker „Orientalismus“, dass der Okzident den Orient nur deshalb als vernunftwidrig, gefühlsgeleitet und wankelmütig, folgewidrig, naiv und grausam begreifen möchte, um sich so von diesen Attributen selber freisprechen zu können.
Wo Empathie fehlt, hilft vielleicht das Pathos weiter. Dalida, mit bürgerlichem Namen Yolanda Christina Gigliotti, kam 1933 als Tochter italienischer Einwanderer in Kairo zur Welt. Sie wuchs in einfachen Verhältnissen im Stadtteil Schubra auf und meldete sich mit 21 zu einer Konkurrenz an, aus der sie als Miss Ägypten hervorging. Sie erfüllte sich in der Folge den Traum, Sängerin zu werden, indem sie hart an ihrer Kunst arbeitete und zugleich ihrem sicheren Instinkt für all das folgte, was ihr für ihre Karriere von Nutzen schien.
Nachdem Dalida jahrelang das Angebot ausgeschlagen hatte, am Sängerwettstreit in San Remo teilzunehmen, sagte sie 1967, längst ein Star, schließlich zu. Sie tat dies des Liedermachers Luigi Tenco wegen, mit dem sie eine Beziehung mehr hatte denn lebte. Von Tenco, der sich Gigi Mai nannte und wie sie ein Leben lang singen und komponieren wollte, stammt das Lied „Ciao amore, ciao“, in dem er das Schicksal der italienischen Emigranten beklagt. Das ausgelassene Festival schien aber kein Ort für spezielle politische Anliegen zu sein. Der Song fiel in San Remo durch. Tenco nahm sich am selben Abend das Leben.
Der Schweizer Schriftsteller Franco Supino kam 1965 als Sohn italienischer Einwanderer in Solothurn zu Welt. Er gehört heute, nach vier Romanen und etlichen Auszeichnungen, zu den wichtigsten Schweizer Stimmen seiner Generation. Seine Stoffe bezieht Supino vor allem aus seiner Biografie, der er inspiriert nachgeht, wobei er den Rahmen der Konvention so mühelos wie nebenher sprengt. In seinen Romanen „Musica Leggera“, „Die Schöne der Welt“ und „Der Gesang der Blinden“ kommt Supino ohne falsche Selbstvergewisserungen aus, ohne den Rückzug auf eine „Italianità“, wie Edward W. Said wohl gesagt hätte.
In seinem neuen Roman „Ciao amore, ciao“ lässt Supino den Protagonisten die Lebensstationen Dalidas aufsuchen. Sein Held reist ins kalabrische Serrastretta, woher Dalidas Familie stammte, nach Kairo in den Stadtteil Schubra, nach Rom und Paris, wo in Montmartre heute ein Platz nach Dalida benannt ist. Er redet mit den Menschen. Er lässt sich alles zeigen, auch das im Umbau befindliche Gebäude in San Remo, wo der Liederwettstreit einst stattgefunden hatte und in dessen damaligem Bühnensaal heute eine Geldspielautomatenhölle eingerichtet ist.
Dalida litt darunter, dass man sie in Ägypten vor allem als Italienerin sah. Genauso litt sie unter der Tatsache, dass man sie umgekehrt in Italien und in Paris, wo sie über 30 Jahre lang lebte und sich 1987 umbrachte, vor allem als Ägypterin sah. Franco Supinos Protagonist kennt diese Geografie der Gefühle. Dalida nachzureisen heißt für ihn, das eigene und das fremde Leben versuchsweise parallelisieren zu wollen.
Das wird – wie in diesem gekonnt komponierten Roman –nur dann erhellend, wenn dabei das rückwärts gewandte Pathos der Dalida-Songs gegen jenen Fatalismus ausgespielt wird, den viele Ausgewanderte und deren Nachkommen sich nach wie vor leisten wollen. Das falsche Pathos des lebenslangen Heimatverlustes und der wohlfeile Fatalismus der Selbstbezüglichkeit „in der Fremde“: Auf beides trifft man in den Großstädten Europas, wo etwa die schulischen und beruflichen Ausfallquoten zweisprachig aufgewachsener Jugendlicher horrend und von ihren Erziehungsberechtigten mitzuverantworten sind. Supino geht es mehr um das individuelle als um das gemeinschaftliche Leben, mehr um das persönliche als um das kollektive Scheitern.
Er erzählt die Beziehung von Dalida mit Tenco frei, zugewandt und mit herrlichen Trouvaillen in Liebesdingen. Wenn er seinem Roman ein Motto des Schriftstellers Cesare Pavese über die Fragilität des Lebens voranstellt, verbindet er Pavese, Tenco und Dalida zwar über ihren Freitod. Supinos Protagonist aber reagiert nicht mit jener letzten Gewalt gegen sich selbst. Im erwähnten Spielsalon in San Remo zeigt er weder Zorn noch Zynik, sondern ein allenfalls empathisches Angewidertsein: „Zum ersten Mal wurde aus San Remo ein Lied mit einer politischen Aussage in die Wohnzimmer der Italiener getragen. Zum ersten Mal war von den Verlierern und von den Ausgebeuteten die Rede, die in den Wirtschaftsmetropolen des Nordens ein Auskommen suchten und auf Ablehnung und Hass stießen. Das erste Lied, das von San Remo aus die Welt hätte verändern sollen. Als ich im Spiegel hinter der Theke mein enttäuschtes Gesicht entdeckte, verzog ich es zu einer Grimasse.“
Franco Supino: „Ciao amore, ciao“. Rotpunktverlag, Zürich 2004, 280 Seiten, 21 €