Der Wahlsieg der Hamas gleicht nicht der Machtergreifung von 1933 : Historischer Unsinn
Wenn einem nichts mehr einfällt, dann kommt der Vergleich mit dem Nationalsozialismus. Schon am Tag nach der palästinensischen Parlamentswahl verglich in Israel Salman Schowal, zuletzt langjähriger Berater von Ministerpräsident Ariel Scharon, den überraschenden Wahlsieg der Hamas mit der Situation, die 1933 in Deutschland herrschte: Demokratische Wahlen hätten eine undemokratische, terroristische Partei an die Macht gebracht, so Schowal. Den gleichen historischen Vergleich zog der Chef der israelischen Likud-Partei Benjamin Netanjahu, als er am Sonntag auf einer Wahlkampfveranstaltung in der Hafenstadt Netanja auftrat. Und in die gleiche Kerbe schlug gestern in dieser Zeitung auch Rafael Seligmann, als er den Wahlsieg der Hamas mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten verglich. So ein Unfug!
Was soll dieser Vergleich denn nahe legen? Dass die Palästinenser jetzt rigoros aufrüsten und Israel besetzen werden? Allein schon der Vergleich des Deutschen Reiches im Jahre 1933, damals immerhin einer der mächtigsten Staaten in Europa, mit den zerstückelten palästinensischen Gebieten, die immer noch unter israelischer Besatzung stehen und in denen selbst das Steuerwesen von Israel abhängig ist, ist derart verdreht, dass weniger die Kompetenz historischer Analogiebildung als vielmehr die eigene Ratlosigkeit zu Tage tritt.
Aber auch in anderer Hinsicht verbietet sich der Vergleich. Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 war schließlich nicht das Ergebnis einer freien Wahl, sondern antirepublikanischer Hinterzimmerpolitik beim damaligen Reichspräsidenten Hindenburg. Bei den letzten freien Reichstagswahlen im November 1932 hatte die NSDAP nur 33 Prozent der Stimmen gewinnen können. Die Wahlen, die Anfang März 1933 folgten, dürften angesichts des massiven Terrors gegen die Linke – Stichwort: Reichstagsbrandverordnung – von UNO-Beobachtern, hätte es sie damals bereits gegeben, kaum als freie Wahlen charakterisiert worden sein. Doch selbst unter diesen Bedingungen gelang es der NSDAP damals nicht, die erhoffte absolute Mehrheit der Stimmen zu erzielen; sie kam auf knapp 44 Prozent. Hitler brauchte die Deutschnationalen, um eine Regierung bilden zu können. Mit dem so genannten Ermächtigungsgesetz stimmten kurz darauf die bürgerlichen Parteien nicht nur der Selbstentmachtung des Parlaments zu, sie bahnten damit auch den Weg für die Zerschlagung der rechtsstaatlichen Strukturen. Aber keine Wahl hat den Nationalsozialisten das Mandat erteilt, den Rechtsstaat zu zerstören, einen Krieg zu entfesseln und die europäischen Juden zu ermorden.
Dass die Weimarer Demokratie nur von wenigen verteidigt wurde, stattdessen immer mehr Deutsche bereitwillig das neue Regime unterstützten, steht außer Frage. Aber dass Hitler eine demokratische Legitimation besessen habe, kann nur jemand behaupten, dem der Sinn für den Zusammenhang von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit abgeht.
Vielleicht ist, um die Lage im Nahen Osten zu verstehen, der Blick nach Nordirland deshalb hilfreicher als der in die deutsche Vergangenheit. Dort ist zum Beispiel die Sinn Féin, die als politischer Arm der terroristischen IRA gilt, am Friedensprozess beteiligt. Bislang hat dies allerdings noch niemand zum Anlass genommen, der britischen Regierung einen zeitgeschichtlichen Nachhilfeunterricht verordnen zu wollen. Friedenspolitik braucht eben keinen Alarmismus, sondern Beharrungsvermögen und Entschlossenheit.
Dass auch mit der neuen palästinensischen Regierung geredet werden wird, ist deshalb im Grunde so selbstverständlich, wie es die Gespräche und Verhandlungen mit Arafat und seinen PLO-Kollegen waren. Auch diese haben, daran muss heute offenbar eigens erinnert werden, einst den Terrorismus gegen Israel unterstützt.
Die EU und Angela Merkel haben mit bemerkenswerter Nüchternheit und Klarheit drei Punkte für die Zusammenarbeit mit einer Hamas-Regierung genannt: Anerkennung des Existenzrechts Israels, Waffenruhe und Einhaltung der bisherigen Friedensvereinbarungen. Eine strikte Kontrolle der Verwendung internationaler Gelder ließe sich noch hinzufügen. Die Hamas-Regierung wird sich an ihren Taten messen lassen müssen.
MICHAEL WILDT
Michael Wildt ist Historiker am Hamburger Institut für Sozialforschung und lehrt Geschichte an der Universität Hannover. Mit diesem Beitrag antwortet er auf Rafael Seligmann, dessen Kommentar gestern an dieser Stelle erschienen ist.