■ Der Vietnam-Krieg und die deutschen Linken: Ent-Täuschung
Das Wort Enttäuschung kann man auch mit einem Bindestrich schreiben: Ent-Täuschung. Eine unangenehme Beschäftigung, denn die Erfahrung lehrt, daß wir, statt uns zu ent-täuschen, lieber „Vanitas!“ rufen und uns angeekelt abwenden. Eher lassen wir unsere Ideale fahren als unsere Illusionen. Sich richtig zu ent-täuschen, lohnt sich dennoch immer. Frust schlägt in Erkenntnis um und der Gewinn an Nüchternheit wie an Distanz verurteilt uns nicht zur Tatenlosigkeit. So ungefähr sah es vor mehr als 300 Jahren ein kluger, wenngleich etwas zynischer Herr, der spanische Jesuit Baltasar Gracián, in seinem „El Criticoń“.
20 Jahre ist es jetzt her, daß Saigon befreit wurde und der vietnamesische Krieg sein Ende fand. Auflehnung und Widerstand gegen die amerikanische Intervention in Vietnam bildeten das Generationserlebnis der damaligen außerparlamentarischen Opposition. Es ist die Geschichte einer großen Leidenschaft und ihres jähen Endes. Denn auf die Begeisterung der 60er Jahre folgte in den späten 70er Jahren das Entsetzen. Entsetzen über das Schicksal der in die Flucht getriebenen chinesischen Minderheit in Vietnam, der „boat people“, Entsetzen über den Massenmord im benachbarten, gleichfalls sozialistischen Kamputschea, über die Besetzung dieses Landes durch die Truppen Vietnams und den „Erziehungsfeldzug“ Chinas gegen die vietnamesische „Brudernation“ als Antwort darauf. Diese kumulierten Katastrophen führten in der Bundesrepublik zu einer Krise der internationalistischen Orientierung, die aber nicht heilsam war und deren Folgen in die politische Kultur unserer Tage hineinreichen. Denn die Weigerung, angesichts der Morde und Massenvertreibungen in Bosnien-Herzegowina Position zu beziehen, die weit verbreitete These, wonach die Kriegsparteien alle und gleichermaßen Verantwortung trügen – sind sie nicht auch Ausdruck eines allzu bequemen Mißtrauens ins einmal fehlgegangene Urteil und in die eigenen, einmal so grausam frustrierten Emotionen?
Was war richtig, was falsch am damaligen Engagement der deutschen Linken für die Völker Indochinas, welche Richtung müßte eine verspätete Ent-Täuschungsarbeit einschlagen, um jenseits historischer Querelen von Nutzen zu sein? Sicher scheint mir, daß der Krieg der Amerikaner in Vietnam nicht nachträglich in eine Auseinandersetzung Freiheit contra Totalitarismus umgemodelt werden kann. Gegen eine in der vietnamesischen Gesellschaft verwurzelte, antikoloniale und (agrar-)revolutionäre Bewegung, die sich ihrer korrupten Oberschicht entledigen wollte, wurde im Namen des antikommunistischen Kampfs die mächtigste Militärmaschine der damaligen Welt in Bewegung gesetzt. Die Vietnamesen (wie auch die Kambodschaner und Laoten) wurden vernichtenden Massenbombardements ausgesetzt, viele Tausende kamen in Konzentrationslagern um. Gegen diesen versuchten Völkermord zu protestieren, solidarische Hilfe für die Befreiungsbewegung zu leisten, war nicht nur gerechtfertigt. Es war geradezu die logische Konsequenz aus der demokratischen, „westlichen“ Orientierung, mit der die Protestgeneration aufgewachsen war. Nicht umsonst fühlten sich die amerikanische und die westdeutsche Antikriegsbewegung von Anfang an wahlverwandt. „Amis raus aus Vietnam“ war eine gerechte Forderung.
Aber diese sichere Position wurde in der Bundesrepublik bald von einem ideologischen Geflecht überwuchert. Anders als in den Anfängen der Protestbewegung imaginierte man den vietnamesischen Befreiungskrieg als Brennpunkt eines weltweiten Emanzipationskampfes, gab sich der Vorstellung der Gleichzeitigkeit revolutionärer Prozesse hin. Das „befreite Gebiet“ wurde zur Metapher, die zur Not auch auf eine besetzte Universität in Westdeutschland angewandt wurde. Eier, später Mollis auf die Amerika-Häuser wurden als direkter Beitrag zum Sieg über die USA gefeiert. Statt sich über die Heterogenität der Kräfte Rechenschaft abzulegen, die in Vietnam, mit je eigenen Bedürfnissen und eigener Legitimität, gegen die Amerikaner kämpften, verdichtete sich im Bewußtsein vieler hiesiger Linker der Widerstand zu einem einheitlichen Subjekt, „dem vietnamesischen Volk“. Daß die Partei der Werktätigen Vietnams eine Organisation im Geist der kommunistischen Internationale war, die keine gleichberechtigten Bündnispartner, keine „dritte Kraft“ neben sich dulden würde, geriet ebenso aus dem Blickfeld wie die großmachtchauvinistischen Ansprüche, die das Verhältnis (auch) der vietnamesischen Kommunisten gegenüber den kleinen Brüdern, den Laoten und Kambodschanern, kennzeichneten.
Am gefährlichsten, am folgenreichsten aber wurde die Glorifizierung des bewaffneten Kampfs, der Kult des Partisanen, die Mythisierung der revolutionären Gewalt. Sicher, der Widerstandskampf in Vietnam schloß auch Elemente der sozialen Befreiung ein. Aber viele Linke faßten den Befreiungskrieg umstandslos als das Instrument menschlicher Emanzipation auf. Die These von der produktiven Funktion des Hasses gegen den kolonialen Unterdrücker, von dem algerischen Arzt und Unabhängigkeitskämpfer Frantz Fanon aufgestellt und von Jean-Paul Sartre popularisiert, wurde von Teilen der westdeutschen Linken, z.B. von Rudi Dutschke, zwar relativiert, aber kaum zurückgewiesen. Die scharfe, dabei solidarische Kritik, die die deutsch-amerikanische Philosophin Hannah Arendt 1970 am Gewaltfetischismus der Linken übte, blieb hingegen unbeachtet. Handelte es sich bei ihr doch angeblich um eine Vorreiterin des Kalten Krieges und Kommunistenfresserin.
Faszinierend zu sehen, wie in weiten Teilen der westdeutschen Bewegung gegen den Krieg der USA in Vietnam schon vorhandene Kenntnisse in Vergessenheit gerieten, Wunschphantasien die widerspruchsvolle Realität verdrängten, das Gebot der Solidarität Stimmen der Warnung, der Kritik, der Relativierung erstickte. Als nach 1975 die wirklichen Verhältnisse Indochinas ans Tageslicht traten, war das ein unerwarteter Faustschlag ins Gesicht der Linken.
Aber legt diese traurige Geschichte zum 20. Jahrestag der Befreiung Saigons nicht auch den Gedanken nahe, daß es etwas jenseits der sich ausschließenden Aggregatzustände „begeistert“ und „entsetzt“ geben könnte, daß Ent-Täuschung, Ernüchterung nicht gleichbedeutend sein muß damit, daß wir universalistisch orientierte politisch-moralische Maßstäbe über Bord werfen, uns mit Enzensberger auf den eigenen Pfahlbau zurückziehen? Und daß der Zusammenbruch utopischer Hoffnungen das Engagement für die Erniedrigten und Beleidigten in der Welt nicht ausschließt? Christian Semler
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