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Der Teufel mit der Fistelstimme Von Ralf Sotscheck

Die Terroristen werden immer jünger. Aber daß ein Fünfjähriger eine ganze Insel an den Rand der Lynchjustiz treiben kann, kommt nicht alle Tage vor. Kieran sieht aus wie das Titelbild jedes zweiten Irlandbuches: rothaarig mit unzähligen Sommersprossen. Außerdem kommt das Energiepäckchen mit erstaunlich wenig Schlaf aus. Patricia, seine Mutter, war nach dem Familienurlaub jedenfalls urlaubsreif und nahm das Angebot ihrer Freundin Mary dankend an, das lebhafte Kind eine Woche zu sich nach Inisheer zu nehmen.

Inisheer ist die kleinste der drei Aran-Inseln vor der Westküste Irlands. Sie hat einen mittelalterlichen Turm, ein altes Bethaus und eine Kirche, die einmal im Jahr aus dem Sand ausgegraben wird, damit man geschwind einen Gottesdienst abhalten kann, bevor sie wieder zugeweht wird. Für einen Fünfjährigen nicht unbedingt Sehenswürdigkeiten mit großer Anziehungskraft.

Kieran ahnte wohl schon, daß er in eine Art Strafkolonie verschleppt werden sollte. Auf dem Flughafen von Carnmore bei Galway kam es zum ersten Eklat. „Das ist nicht meine Mutter“, erklärte er der Angestellten am Schalter, als Mary die Flugtickets kaufen wollte. „Ich will nicht auf diese scheiß Insel, aber die fremde Frau zwingt mich dazu.“ Es kostete Mary viel Überzeugungskraft, bis die Angestellte einsah, daß es sich bei Kieran um das verlogenste Kleinkind Westirlands handelte.

Für den Piloten blieb der kurze Flug unvergeßlich. Kieran versuchte gleich nach dem Start, ihn wieder zur Landung zu zwingen. Zum Glück war er unbewaffnet, wenn man von seinem Magen absieht, dessen Inhalt er dem Piloten in die Mütze kotzte. Auf der Insel dauerte es keine drei Stunden, da hatte er in der Cafeteria – dem einzigen Freizeit-Etablissement weit und breit – Hausverbot. Die Besitzerin fürchtete in Anbetracht von Kierans breitem Fluchwortschatz um Sitte und Anstand der Insel- Teenager.

Drei Tage später wollte man ihm noch mal eine Chance geben. Nachdem Kieran geschworen hatte, den Mund zu halten, durfte er auf Bewährung in die Cafeteria. Zwei Stunden ging alles gut, auch wenn er vor Untatendrang fast geplatzt wäre. Dann mußte er auf die Toilette. Kurz darauf kam eine kreidebleiche Nonne in den Laden, bekreuzigte sich fortwährend und behauptete, ihr sei soeben der Teufel persönlich begegnet: Er habe nackend im Fenster des Männerklos gestanden und mit diabolischer Fistelstimme aus vollem Halse gebrüllt: „Scheiße, Pisse, Fuck!“

Den Rest der Woche bekam Kieran Stubenarrest verordnet, konnte aber schon in der ersten Nacht aus dem Zimmer entkommen. Er schlich sich zum Telefon in der Küche, wählte den Notruf und tischte dem wachhabenden, aber schläfrigen Beamten eine solch unglaubliche Geschichte von Kindesentführung und Freiheitsberaubung auf, daß der sie prompt glaubte. Die Küstenwache traf im Morgengrauen mit heulenden Sirenen ein. Man hatte den Anruf zurückverfolgt. Mary bestach die Beamten mit einer Flasche Whiskey und schickte Kieran im Küstenwachboot zu den Eltern zurück. An der Pier und am Rollfeld von Inisheer hängen seitdem Fotos von dem Miniterroristen mit dem Vermerk: „Unter keinen Umständen landen lassen.“

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