■ Der Streik der polnischen Kumpel ist ein schlesischer Streik: Populismus kontra Ignoranz
Die meisten der 23 Forderungen der streikenden schlesischen Kumpel lassen sich darauf reduzieren, daß die Bergleute nicht entlassen, sozial abgesichert, höher subventioniert und besser entlohnt werden wollen. Doch hinter dem Streik steckt mehr als nur der Versuch der Gewerkschaften, den Verlust liebgewonnener Privilegien und sozialer Positionen so lange wie möglich hinauszuzögern. Der Bergarbeiterstreik, dem sich die Eisenbahner angeschlossen haben und die Hütten vermutlich noch anschließen werden, ist inzwischen nicht nur für die Streikenden, sondern auch für viele Einheimische überhaupt zu einem schlesischen Streik geworden.
In einer Situation, in der Autonomieforderungen in Kattowitz ohnehin immer lauter vorgetragen werden, hat Warschau in letzter Zeit gleich mehrmals völligen Mangel an Einfühlungsvermögen für die Probleme der Region bewiesen: So wurden vom Umweltministerium die Strafen für umweltverschmutzende Betriebe, die vorwiegend in Schlesien angesiedelt sind, herabgesetzt. Verschiedene Minister lassen beiläufig horrend hohe, aber völlig widersprüchliche Zahlen darüber fallen, wie viele Bergleute und Hüttenarbeiter in naher Zukunft bei der Umstrukturierung der Schwerindustrie ihren Arbeitsplatz verlieren werden. Gleichzeitig werden Forderungen nach mehr Selbstverwaltung in Schlesien pauschal als Separatismus abgebügelt. Von enttäuschten Regionalpolitikern kann man zwischen Kattowitz und Rybnik schon seit Jahren hören, Polen leiste sich in Oberschlesien eine eigene Kolonie. Symptomatisch ist da, daß die Regierung in Warschau vom Ausmaß der Streikwelle völlig überrascht wurde. Daß Gruben bestreikt werden, ist nun wirklich nichts Neues, wohl aber, daß an den Streiks 300.000 Bergleute teilnehmen, die ansonsten völlig zerstrittenen Gewerkschaften alle an einem Strang ziehen und so die Region und große Teile Polens über Nacht lahmlegen.
Die Folgen entsprechen dem Ausmaß des Problems. Die meisten Forderungen der Bergleute wie auch der Eisenbahner sind für die Regierung aus finanzpolitischen und Prestigegründen unannehmbar. Aussitzen läßt sich dieser Streik aber nicht mehr. Auf die Stimmen der Solidarność-Abgeordneten, die bisher zum harten Kern der wackligen Parlamentsmehrheit Premier Suchockas gehörten, wird sie da wohl in Zukunft verzichten müssen. Schon mit ihnen sind Mehrheiten für die Regierung zumeist Zufallsprodukte des Parlaments. Hinzu kommt der Dauerkonflikt mit dem größten Koalitionspartner, den Christnationalen, um die Abtreibung und einige drastische Preiserhöhungen im nächsten Jahr, die Polens Finanzminister seinen Bürgern noch zusätzlich durch einige preistreibende und kaufkraftsenkende Steuergesetze versüßt hat. Der Spielraum für die Regierung Suchocka wird so immer enger, doch zu dieser wenig beneidenswerten Lage hat sie selbst eine Menge beigetragen. Klaus Bachmann, Warschau
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen