: Der Sound des Mittelalters
Die Idee ist so ehern, wie es die Werkzeuge sind: Im Burgund lässt sich ein Kunsthistoriker eine Burg bauen – ganz ohne modernes Gerät. Finanziert wird das Unternehmen durch Touristen und Subventionen. Und viel Gratisarbeit
VON DOROTHEA HAHN
„Ding-ding“, tönt es. Ein Hammerschlag geht auf einen Meißel nieder. Einer auf einen Amboss. Dann folgt Stille. Der vollbärtige Schmied dreht den Meißel weiter und wiederholt die Übung: „Ding-ding“. Mit jedem Schlag wird das Meißel-Ende ein bisschen spitzer. Mit jeder Drehung verblasst das orangerote Glühen ein wenig. Am Ende ist das Metall hart und dunkel und kalt.
Die Spitze im Meißel wird nicht lange halten. Denn der Sandstein von Guédelon ist hart. Am anderen Ende der Baustelle, unter einer gespannten Stoffplane, bearbeitet der Steinmetz einen Block Sandstein. Der Block – hüftbreit, eine Hand tief – stammt aus dem Steinbruch auf der Baustelle. Er ist für die Außenmauer des Hauptturms bestimmt. Und soll rechteckig werden. Mit geraden Kanten. „Tok-tok“, hallt es über die Baustelle. Steinsplitter spritzen umher. Als die erste Seite des Blocks glatt gehauen ist, bringt der Steinmetz seinen Meißel zum Schmied. Er soll ihn in Form bringen. „Eisen ist teuer im Mittelalter“, sagt der Schmied, „man darf es nicht verschwenden.“
Der Schmied und der Steinmetz sind in die Rolle von Arbeitern aus dem 13. Jahrhundert geschlüpft, um eine Burg zu bauen. Schon oft sind Burgen restauriert und kopiert, gelegentlich sogar komplett an andere Orte verpflanzt worden. Aber noch nie in der Neuzeit ist eine Burg nach mittelalterlichen Methoden und mit mittelalterlichem Werkzeug gebaut worden. In einem Eichenwald im Département Yonne im Burgund versuchen sie es: Mittelalter heute.
Vor dem Schmied drängeln sich von morgens bis abends Besucher. Für ein Eintrittsgeld von acht Euro machen sie eine Zeitreise – sieben Jahrhunderte rückwärts. Sie schauen fünfzig Handwerkern zu, die sämtliche Gewerke vertreten, die für den Burgenbau nötig sind: von der Töpferin über den Zimmermann, vom Korbflechter und Seiler bis zum Maurer. Rund um den sechzig mal siebzig Meter großen Grundriss der Burg haben die Arbeiter Werkstätten aus Holz und Lehm in den Wald gebaut. Jeden Morgen bei Dienstbeginn legen sie ihre Armbanduhren, Handtaschen und Mobiltelefone ab. Werfen leinenfarbene Kittel über. Und knoten einen Gürtel aus Seil um ihre Hüften.
Am Ende soll Burg Guédelon so wehrhaft aussehen wie die acht Jahrhunderte alten Vorbilder aus der Zeit von König Philippe-Auguste. Unter seiner Herrschaft von 1180 bis 1223 bricht in Frankreich ein Bauboom aus. In den Städten wachsen Kathedralen in den Himmel. Auf dem Land lassen Feudalherren, die sich bei Kreuzzügen reich geplündert haben, Burgen bauen.
Wie die Originalbauten jener Epoche bekommt auch Burg Guédelon vier beinahe fensterlose Türme (davon einen dreißig Meter hohen Hauptturm), eine bis zu zweieinhalb Meter dicke Burgmauer mit Schießscharten, einen trockenen Burggraben, eine Ziehbrücke und ein Wohnhaus im Innenhof.
Bis Burg Guédelon bezugsfertig ist, wird viel Zeit vergehen. Anders als im Mittelalter, als manchmal sehr schnell gebaut wurde – die normannische Burg Gaillard von Richard Löwenherz war schon nach zwei Jahren fertig – hat es auf der modernen Mittelalterbaustelle niemand eilig. Grundsteinlegung war 1997. Erst ein Vierteljahrhundert später soll der Bau abgeschlossen sein. Es geht nicht um das Ergebnis. Sondern um den Weg. Die Besucher wollen sehen, wie mühsam es ist, zentnerschwere Steinblöcke ohne Kran zu bewegen. Und wie langwierig, einen Innenhof mit Fliesen zu pflastern, wenn man die Rohstoffe im Wald sucht und jede Fliese per Hand formt. Und färbt. Und brennt.
Die Idee für den Burgenbau vor Publikum hatte Michel Guyot. Der 57-Jährige ist Reitlehrer und Kunsthistoriker und hat ein Händchen für Geschäfte mit alten Steinen. 1979 erwarb er seine erste eigene Burg, eine Ruine in Saint-Fargeau im Burgund. Seither sind drei weitere Burgen hinzugekommen. Die Restaurierung und den Unterhalt von Saint-Fargeau, wo er heute residiert, finanziert Michel Guyot mit Festivals in den Gemäuern. Sein Trick: die achthundert Laienschauspieler treten gratis auf. Die Eintrittsgelder der bis zu sechstausend Besucher pro Abend gehen in die Burgenkasse. Michel Guyot selbst spielt nicht mit, er baut auch nicht. Er kommt bloß mehrfach die Woche nach Guédelon und schaut zu. „Ich will sehen, wie meine Burg wächst“, sagt er.
Die unternehmerischen Details für die Mittelalterbaustelle hat sich Maryline Martin ausgedacht. Als Michel Guyot ihr 1995 seine Burgenidee vorlegte, hatte sie nicht die geringste Ahnung vom Mittelalter. Sie hat Chinesisch studiert und im Import-Export gearbeitet. Wovon sie etwas versteht, ist das Beschaffen finanzieller Hilfe: Binnen weniger Monate besorgt Maryline Martin hunderttausende Euro – von der EU, von der Region, von Unternehmensstiftungen und aus den Kassen der Arbeitsämter. Die Managerin findet auch das Baugelände im Wald von Guédelon. Und sie engagiert die Beschäftigten für die Baustelle: Manche davon sind ausgebildete Handwerker, andere schwer vermittelbare Langzeitarbeitslose. Hinzu kommen Leute, die gratis arbeiten. Aus Begeisterung für das Mittelalter.
Sieben Jahre nach Baubeginn ist Burg Guédelon der größte Arbeitgeber in der strukturschwachen Region. Im Hochsommer kommen die Beschäftigten sieben Tage die Woche auf die Baustelle. Auch am „heiligen“ Sonntag und an religiösen Feiertagen, an denen im Mittelalter striktes Arbeitsverbot herrschte. Im Winter, wenn der Mörtel gefriert und keine Touristen kommen, machen sie eine viermonatige Zwangspause. Das ergibt eine „Jahresarbeitszeit“, die modernsten französischen Gesetzen entspricht. Die Lohnkosten werden großzügig staatlich bezuschusst.
Die anfangs belächelten Burgenbauer haben die zweitgrößte Tourismusattraktion der ganzen Region geschaffen. Dafür haben sie mehrere Preise erhalten. Und werden als innovative Unternehmer von Politikern aller Parteien hofiert. Managerin Maryline Martin überlegt bereits, das Mittelalterunternehmen in die Zukunft zu verlängern. Wenn die Burg fertig ist, will sie gleich nebenan weiterbauen. „Etwas Sakrales“, sagt sie, „vielleicht eine Abtei.“
Ohne Know-how wäre das Projekt nie so weit gediehen. Die Burgenbauer werden von einem „wissenschaftlichen Beirat“ beraten, in dem Archäologen und Kunsthistoriker sitzen. Darunter der auf das Mittelalter spezialisierte Bauarchäologe Nicolas Reveyron von der Universität Lyon. Er schlug vor, den Querschnitt des Hauptturms in Guédelon zu verkleinern. „Die ursprünglich vorgesehenen 32 Meter hätte sich allenfalls ein König leisten können“, erklärt er, „aber kein kleiner Feudalherr in der armen Region Puisaye.“
Umgekehrt holt sich Nicolas Reveyron praktische Anschauungen für seine wissenschaftliche Arbeit. „Normalerweise habe ich Ruinen vor mir. Mauern aus dem Mittelalter, die ich interpretieren muss“, erklärt er, „in Guédelon kann ich meine Hypothesen überprüfen.“ So wurden unfertige Mauern dereinst wohl tatsächlich im Winter mit Tiermist abgedeckt – und nicht mit Stroh, wie eine andere Hypothese lautete. Begründung: „Der dampfende Mist isoliert den noch feuchten Mörtel besser gegen Kälte und Gefrieren.“ Experimentelle Archäologie nennt Managerin Marylin Martin dieses Vorgehen. Kritikern, die ihre Baustelle als Themenpark belächeln, entgegnet sie kategorisch: „Wir machen hier kein Disneyland.“ Zu den Gerüchten in den umliegenden Dörfern, wonach in Guédelon nachts mit hochmodernen Maschinen gearbeitet werde, sagt sie bloß: „Das ist Neid auf unseren Erfolg.“
Familien mit Kindern und Geschichtslehrer, die ihren Schulklassen das Mittelalter näher bringen wollen, sind die Hauptkunden auf der Baustelle. Im vergangenen Jahr kamen fast 200.000 Besucher. Sie brachten dem zweieinhalb Autostunden südlich von Paris gelegenen Unternehmen des Monsieur Guyot einen Umsatz von 1,7 Millionen Euro.
Bei Fachleuten hingegen ist Guédelon umstritten. Bis heute rätseln die Wissenschaftler über den Status der Bauleute im Mittelalter. Woher sie kamen, wer sie ausbildete und wie sie bezahlt wurden. Man weiß auch nur wenig über die mittelalterliche Baustellenorganisation – von der Frage, woher das Baumaterial kam und wer es kaufte, bis hin zur Hierarchie auf dem Bauplatz. „Guédelon ist ein attraktiver Park für Kinder“, sagt der Archäologe Christian Sapin, Direktor des Zentrums für Mittelalterforschung in der burgundischen Stadt Auxerre, „aber auf die offenen Fragen über jene Epoche kann er keine Antworten liefern.“
Anfänglich hatten sich renommierte Burgenkundler für Guédelon begeistern lassen. Jean Mesqui, Präsident der Französischen Gesellschaft für Archäologie, saß sogar im wissenschaftlichen Beirat. Er stieg sehr schnell und sehr enttäuscht aus, als er erfuhr, dass als Erstes eine moderne Planierraupe im Wald von Guédelon anrückte, um das Gelände zu ebnen. Heute sagt er: „Der wissenschaftliche Beirat ist ein Alibi.“
Für die Leute auf der Baustelle zählt anderes. Der Schmied Philippe Delage sucht in Guédelon die „Rückkehr zu den Wurzeln“. Der Seiler Yvan Herouart, der einen schweren Unfall hatte und nicht mehr in seinem alten Job arbeiten kann, ist froh, dass er überhaupt wieder Arbeit hat. In seinem Vertrag steht, dass er auch als „Animateur“ angestellt ist. Ständig ist er von neugierigen Erwachsenen und Kindern umringt. Zeit, um Hanfseile zu drehen, hat er kaum. Und die Berlinerin Brigitte Wehmeyer, die hier als Freiwillige arbeitet, hat in Guédelon gelernt, mittelalterliche Bauten mit anderen Augen zu betrachten: „Ich weiß jetzt, wie viel Arbeit im Turm einer Kathedrale steckt.“ Um in Guédelon arbeiten zu dürfen, zahlt sie fünf Euro pro Übernachtung und vier für das Mittagessen. Lohn bekommt sie nicht. Und trotzdem steht sie jetzt als Nummer drei in einer Kette von Arbeitern, die sich Mauersteine für den Hauptturm weiterreichen. Den Rest des Tages wird sie damit verbringen, einen der Steine einzumauern.
Im Hof von Burg Guédelon setzt sich ein hölzernes Rad in Bewegung. Im Inneren läuft ein Arbeiter von einer Sprosse zur nächsten. Wie ein Hamster. Fünf Meter tiefer, im trockenen Burggraben, hebt ein Stein vom Boden ab. Er ist so breit wie ein Arm lang. So tief wie eine Elle. Der Steinmetz hat einen Tag gearbeitet, um ihn aus dem Fels zu hauen. Jetzt ist der Stein in ein Seil gepackt, das außen aus Hanf ist, wie es die Mittelaltertradition es will, und innen aus Stahl, wie es die modernen französischen Arbeitsinspektoren verlangen.
Punkt 18 Uhr ertönt ein Kuhhorn. Der Sound von Guédelon, das „Ding-ding“ und das „Tok-tok“, verstummt. Die Arbeiter verlassen das 13. Jahrhundert. Am Ausgang streifen sie ihre Kittel ab. Öffnen die Türen von Kleinwagen. Lassen Motoren aufbrummen. Und fahren auf Asphalt in ihren Feierabend des Jahres 2004.
DOROTHEA HAHN ist Frankreichkorrespondentin der taz