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Archiv-Artikel

Der Schuster vom Kotti

Seit 20 Jahren betreibt Ibrahim Contur seine Schusterei „Abgelaufen“ am Kottbusser Tor in Kreuzberg. Dabei ist er erst 32 Jahre alt. Ein Besuch

„Die Deutschen schätzen das Handwerk, sie hängen an ihren alten Sachen. Die Türken kaufen lieber neu“

VON JENNI ZYLKA

Zwischen einem Eisladen und einer türkischen Imbissbude ist die Schleuse in die zweite Reihe der Kotti-Geschäfte. Weil es hier stinkt, hetzt man schnell hindurch, auf dem Weg zum Babylon-Kino, zur Möbel-Olfe-Bar, zum Kita-Spielplatz an der Dresdner Straße. Oder zum Schuster. Der Schuster, für viele Frauen und einige Männer fast der wichtigste Mann im Leben – seinen Schuster sollte man sich gut aussuchen. Ibrahim Contur ist ein Bottentüftler, dessentwegen man auch noch Kreuzbergs schwelendsten sozialen Brennpunkt aufsucht, wenn man längst mit Mann und Maus ins lahme, sichere Zehlendorf geflüchtet ist. Oder anderswohin.

Conturs Schusterei „Abgelaufen“ gehört zum Neuen Kreuzberger Zentrum, jenem ehrgeizigen, inzwischen etwas maroden Projekt, das Schluss machen sollte mit Siff, Drogenhandel, Ghetto und Gewalt am Kottbusser Tor. Sein kleiner Laden ist schnell voll: Mehr als vier KundInnen passen nicht in den schmalen Bereich zwischen Theke und den vor Schuhcremes und Einlagen platzenden Regalen.

Die Tür ist geöffnet, an der Wand stehen zwei Stühle, und meistens sitzt dort jemand, oft nicht um auf Schuhe zu warten, sondern um sich zu unterhalten: Contur ist einer, dem man gerne beim Arbeiten zuguckt und mit dem man ins Reden kommt, auch wenn man eigentlich nur „Neue Sohle bitte“ nuscheln wollte. Auf die kleine, staubige Schaufensterscheibe ist eine Einladung gepinselt: Am Samstag wird er feiern – 20-jähriges Dienstjubiläum. Schuhreparatur und Schlüsseldienst. Dabei ist Contur erst 32 Jahre alt.

1974 wurde er im Wedding geboren. Mit 12 lernte er das Schusterhandwerk, nebenbei, nach der Schule, im Kreuzberger Laden, den sein Vater 1986 eröffnet hatte. Mit 17 hatten seine Eltern für ihn die Verlobung arrangiert, holten das Mädchen aus der Türkei. Er heiratete mit 18, ging zur Armee, zwei Töchter kamen in den 90ern, Ende 2003 die Zwillinge, ein Junge und ein Mädchen. „Wir mussten uns in der ersten Zeit erst mal kennen lernen“, sagt Contur über seine Ehe. Er ist klein, wendig, dunkelhaarig und rotwangig, sein Lachen ansteckend, er reißt mit hauchzartem Akzent trockene Witze, auch über sich selbst. Das Phänomen Contur lässt sich beobachten, wenn man Zeit mitbringt.

Eine Kreuzberger Kneipenhockerin mit Stiefeltick gibt ein Paar aus braunem Wildleder ab. Man kennt sich schon lange. „Mit mir wirst du immerhin nicht arm“, sagt sie. „Reich aber auch nicht“, kontert Contur knapp.

Ein Fahrradsportler, ein junger Hiphopper, eine ältere Hippiebraut kommen zum Abholen. „Die Weißen, die Nikes, die Braunen“, sagt der Schuster, und nickt den KundInnen nacheinander zu – er hat ein Schuhgedächtnis wie Imelda Marcus.

Eine eigentlich vasenförmige, raffiniert eingeschnürte junge Frau will das zarte Fesselriemchen ihrer gefährlich spitzen Stilettos verlängern lassen, sie beschwert sich, dass es nicht um ihre eindrucksvollen Waden reicht. Ein älterer Herr kommt und redet auf Türkisch auf Contur ein. Er zeigt auf seinen Mantel und die Knöpfe, Contur überlegt eine Weile, schlägt dem Mann etwas vor, der nickt und verschwindet.

„Er wollte spezielle Knebelknöpfe für die Reise nach Mekka, weil man nur Handgefertigtes dabei tragen darf, nichts maschinell Hergestelltes“, erklärt Contur den KundInnen muslimische Rituale, während er in seinem kleinen Arbeitsbereich herumwirbelt, eine bedrohliche Pressmaschine bedient, eine Sohle mit Klebstoff behandelt, eine Geschichte erzählt, einem Kind einen Lolli schenkt, einem wartenden Kunden Zeitungen oder Bücher oder ein Paar Stofflatschen anbietet, falls der die Zeit zum Bummeln nutzen möchte. Wenn der Schuster größer wäre, würde er ständig überall anstoßen.

Conturs Laden wird von Deutschen und Migrationshintergründlern gleichermaßen frequentiert. „Die Deutschen schätzen das Handwerk höher, sie hängen mehr an ihren alten Sachen“, findet Contur. Die Türken, „meine Landsleute“, sagt Contur, wollten eher angeben und kauften darum ständig neu. „Ich bin Türke“, sagt der Weddinger, dessen Familie aus Denizli in der Nähe von Antalya kommt und der keinen deutschen Pass besitzt, weil er noch nie einen brauchte.

Apropos Angeben: In den 80ern fing er an, seinem Vater, eigentlich Konfektionsschneider, im damals gerade eröffneten Laden zu helfen, Botengänge zu machen. „Plötzlich hatte ich ein bisschen Geld. Davon hat er sich als erstes eine Witboy-Hose gekauft. „Die hatten den gleichen Schnitt wie die Levi’s. Wir haben uns dazu Original-Levi’s-Etikette besorgt, das Witboy-Ding rausgerissen und Levi’s reingenäht“, er und seine Schulkumpel, genäht hat Contur, auf der Schuhnähmaschine im Laden. „Damit waren wir die Coolsten“, sagt er und lacht.

Die KundInnen sind bedient, ein junger Mann bringt ein Paar Leder-Schnürschuhe zurück, die Contur vergangene Woche repariert hatte – eine Naht ist wieder aufgeplatzt. Contur vernäht neu, umsonst, selbstverständlich. „Das muss für die Ewigkeit halten, wenn ich das mache“, erklärt er. Berufsehre.

Seine Frau hat keinen Beruf erlernt, sie konnte anfangs nicht mal Deutsch. Die Töchter sollen etwas lernen, bevor sie sich verheiraten. „Soweit es in meiner Macht steht“, sagt Contur, „sollen sie eine Ausbildung fertig machen, vielleicht sogar schon gearbeitet haben.“ Denn wenn es nicht klappt mit dem Ehemann, können sie auf eigenen Füßen stehen. Etwas verändert sich in der türkischen, der sunnitischen Gesellschaft, findet er, langsam, aber es geht voran. Dass die Töchter auf jeden Fall heiraten werden, ist für ihn aber klar. „Kann ich mir nicht anders vorstellen.“

Und seine eigenen Pläne? In drei Jahren, mit 35, will er nicht mehr von früh bis spätabends im Laden stehen, unterbrochen nur von Betpausen – ein „Komme gleich wieder!“-Schild hängt dann in der Tür –, sondern samstags geschlossen lassen, um sich seiner Familie widmen zu können. Contur ist der einzige Verdiener, seine Frau hat mit den Kindern zu tun, die Kleinen kommen im Sommer in einen Kindergarten.

Einen Integrationskindergarten: Der Sohn hat seit der Geburt schwere Motorikstörungen, kann weder gehen noch richtig krabbeln. Geistig steht er der Schwester in nichts nach. Aber die Diagnosen über seine Krankheit sind nicht einheitlich, der erste Arzt prognostizierte ein Leben im Rollstuhl, die Krankengymnastinnen sind viel optimistischer, die Kinderärztin redet von Sauerstoffmangel während der Geburt, das Krankenhaus bestreitet alles. Contur überlegt, ob er einen Anwalt einschalten soll. Aber die sind auch nicht gerade billig.

Im Wedding lebt er übrigens noch immer: Am Kottbusser Tor wohnen, das wolle er nicht. Dort zu arbeiten reicht.