: Der Rechthaber
19. Juni 1985: Hans-Christoph Jahr, 32 Jahre alter Amtsrichter in Frankfurt, spricht sieben Marburger MedizinstudentInnen vom Vorwurf der Nötigung frei. Sie hatten am 9. Dezember 1983 die Zufahrt zum Nachschub-Depot der US-Armee in Frankfurt-Hausen blockiert, in dem die US-Armee die zur Stationierung in Deutschland vorgesehenen Pershing-Raketen zwischenlagerte. Jahr bezeichnete den Nachrüstungsbeschluss der Bundesregierung als doppelt verfassungswidrig, die Demonstration dagegen mithin als „nicht verwerflich“.
1. November 1994: Das Landgericht Frankfurt verurteilt Hans-Christoph Jahr wegen Rechtsbeugung und Verfolgung Unschuldiger zu einer Haftstrafe von zweieinhalb Jahren. Jahr habe in fünf Fällen von Verkehrsordnungswidrigkeiten nicht rechtzeitig Hauptverhandlungstermine anberaumt und – um dies zu vertuschen – entsprechende Verfügungen rückdatiert. Jahr weist alle Vorwürfe zurück, keiner der Verteidiger hatte je auf Verjährung plädiert. Er spricht von einem „Unrechts-Urteil“. Von November 1997 bis Juli 1999 ist Jahr als Freigänger in der JVA Frankfurt-Preungesheim inhaftiert, die zehnmonatige Reststrafe wird ihm nach Bewährung erlassen.
12. April 2007: Der Akademische Senat der Hochschule Bremen kommt zu einer Sondersitzung zusammen, einziger Tagesordnungspunkt: „Rektorwahl – Situation nach den Berichten über Herrn Prof. Dr. Jahr in verschiedenen Medien“. Das Gremium hatte Jahr Mitte Februar mit 13:8 Stimmen zum neuen Rektor gewählt – gegen den amtierenden. Die Hochschulleitung strebt in Absprache mit der Wissenschaftsbehörde eine Annullierung der Wahl an. Jahr selbst ist zu der Sitzung nicht eingeladen. SIM
AUS WILHELMSHAVEN UND BREMEN ARMIN SIMON
Er ist in Bedrängnis geraten, ohne Zweifel. Und er wird sich wehren. Er wird um seinen Job kämpfen und um seinen Ruf. „Die erfolgreiche Resozialisierung meiner Person lasse ich mir nicht kaputtmachen“, sagt Hans-Christoph Jahr. Anhörungen, Vorladungen, Personalakten-Studium. Seine Widersacher suchen wieder, wollen ihn wieder kriegen. Ihn, den Wirtschaftsdekan der Fachhochschule Oldenburg/Ostfriesland/Wilhelmshaven (FH OOW). Den „Pershing-Richter“, der einst die Bundesregierung des doppelten Verfassungsbruchs bezichtigte. Den designierten Rektor der Hochschule Bremen. Der Exstrafgefangene soll sich rechtfertigen. Jahr beugt seinen Oberkörper noch etwas weiter nach vorn, drückt seine Ellbogen noch fester gegen die Tischplatte. „Das ist Krieg“, sagt er.
Es ist ein nüchterner Besprechungsraum, hier, an der FH in Wilhelmshaven. Jahr raucht eine Zigarette nach der anderen. Er hat seinen Schuldspruch akzeptiert, auch wenn er ihn noch heute, 13 Jahre nach seiner Verurteilung, für ein „grobes Fehlurteil“ hält: zweieinhalb Jahre Haft, wegen Rechtsbeugung und Verfolgung Unschuldiger.
Erst recht für einen wie Jahr. 26 Jahre alt war er, als er das zweite Staatsexamen in der Hand hielt, summa cum laude, mit Prädikat. Noch am selben Tag legte er seine Doktorprüfung ab, fing direkt als Richter am Amtsgericht Frankfurt an. Er war der jüngste Robenträger der Republik. Ein belesener Shootingstar, ein Überflieger, der lateinische Zitate liebt. Er sei „anmaßend“ gewesen, sagt Jahr, wegen seiner „vermeintlichen intellektuellen Überlegenheit“. Früher hätte er das „vermeintlich“ wohl weggelassen.
„Profilierungssucht“ warf ihm 1985 die Staatsanwaltschaft in Frankfurt vor. Da hatte Jahr begonnen, Strafgesetzbuch und Grundgesetz wortwörtlich zu nehmen und war weniger peniblen Juristen in die Quere gekommen. Jahr hatte damals Strafbefehle auf seinem Schreibtisch liegen: Friedensbewegte hatten das US-Depot in Frankfurt-Hausen blockiert. Die US-Armee lagerte dort ihre Pershing-II-Raketen, die Anklage sah in der Sitzblockade Nötigung. Jahr unterzeichnete die Strafbefehle.
Dann aber legten sieben der Angeklagten Widerspruch ein. Und Jahr, 32 Jahre alt, nahm die Sache ernst. In dem Prozess gaben fünf Raketenexperten und Friedensforscher im Frankfurter Schwurgerichtssaal öffentlich Auskunft über Vernichtungswahrscheinlichkeiten und Reichweiten, verglichen Pershing II mit den sowjetischen SS-20, erörterten „großen“ und „kleinen“ Atomkrieg. Die Staatsanwaltschaft, politische Abteilung, forderte die Universitäten auf, diesen Wissenschaftlern die „staatsgefährdenden“ Aussagen zu verbieten. Jahr pochte auf seine Prozesshoheit – und setzte sich durch. Die Verlesung seines 90-Seiten-Urteils dauerte drei Stunden. Jahr hatte dem Amtsgerichtspräsidenten zuvor den Tenor mitgeteilt: Freispruch. „Dem zog sich alles zusammen“, erinnert sich Jahr. Sein Verhältnis zu seinem Vorgesetzten war fortan ein kühles.
Acht Jahre später wird gegen Jahr ermittelt. Er habe in fünf Bußgeldsachen versäumt, rechtzeitig zu verhandeln. Um das Versäumnis zu vertuschen, habe er Verfügungen rückdatiert – um die aus Sicht der Staatsanwaltschaft eigentlich verjährten Verkehrsdelikte doch noch zu verhandeln. Jahr hatte drei der Verfahren eingestellt, in einem anderen Fall reduzierte er das Bußgeld von 100 auf 70 Mark – womit der Täter um einen Eintrag in Flensburg herumkam. In dem Prozess gegen Jahr erkannte das Landgericht fünfmal Rechtsbeugung und Verfolgung Unschuldiger. Er wird verurteilt, scheitert in der Revision. Aus „Angst vor Vernichtung“ scheidet Jahr 1993 freiwillig aus dem Dienst. Er habe geahnt, „dass die Politik über das Recht siegen würde“. Für den Juristen Jahr bedeutete das: Die Sache entgleitet ihm.
In Bremen erlebt Jahr seit zehn Tagen ein Déjà-vu. Er, der Jura-Professor aus Wilhelmshaven, hat für den Rektorenposten der Hochschule Bremen kandidiert. Der Akademische Senat hat ihn gewählt, gegen den amtierenden Rektor Elmar Schreiber. Sechs Wochen später taucht ein Zeitungsartikel, der über seinen zehn Jahre zurückliegenden Haftantritt berichtet. „Ich halte es für unvorstellbar, dass ich Herrn Jahr zum Rektor dieser international angesehenen Hochschule mache“, verkündet Bremens Wissenschaftssenator Willi Lemke (SPD). Jahrs Amtsantritt sei „unvorstellbar“, betont die Pressestelle der Hochschule. Die Wahl Jahrs, so die Abmachung zwischen Hochschule und Behörde, soll annulliert werden.
Jahr ist der einzige Richter, der die Rechtmäßigkeit der Nachrüstung in Deutschland je geprüft hat. Viele Freunde hat er sich damit nicht gemacht. Denn er hatte, im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht Jahre später, die Sitzblockade als „Gewalt“ gewertet und ihre Verwerflichkeit verneint – weil er in den Raketen auch eine Gefahr für die Wiedervereinigung sah. Das stieß den Linken sauer auf. Die Konservativen wetterten gegen ihn, da sie in ihm einen Fürsprecher des Ungehorsams sahen. „Mit niemandem gemein machen“, lautet noch heute Jahrs Wahlspruch. Das bewahrt Unabhängigkeit. Und Einsamkeit.
Man ist ein wenig sensibel in Bremen in diesen Tagen, was Personalien angeht. Vor zwei Jahren stellte man einen Klinikchef ein, der in die eigene Tasche wirtschaftete und derzeit in U-Haft sitzt. Der „Klinik-Skandal“ beschäftigt einen Untersuchungsausschuss. Und jetzt: Ein Rechtsbeuger als Rektor?
Gerne erzählt Jahr, wie er einmal den Frankfurter Polizeipräsidenten und seine beiden Vize in den Zeugenstand lud. Die hatten eine Anordnung erlassen, die Polizeibeamte sehr effektiv vor Prozessen von mutmaßlich Polizeiopfern schützte. Der Polizeichef wies die Ladung zurück, Jahr drohte ihm daraufhin mit Zwangsvorführung – „wie ich das bei jedem anderen auch gemacht hätte“. Schließlich belehrte er ihn nicht als Zeugen, sondern als Beschuldigten: wegen mutmaßlicher Strafvereitelung im Amt. „Ich denke nicht obrigkeitsstaatlich“, setzt Jahr der Erzählung hinterher. Was „dem Staat dienen“ für ihn heißt, erläutert er an einem Bild: „Der König fällt zuerst.“ Kein Zweifel, dass er für sich stets selbst der König ist.
Das hessische Justizministerium warf Jahr in seiner Zeit als Richter in Frankfurt vor, Angeklagten „in exzessivem Maße rechtliches Gehör zu gewähren“. Ein Richter am Landgericht, Rolf Schwalbe, CDU-Mitglied und als Beschwerdeinstanz bisweilen mit Jahrs Fällen befasst, klagte, Jahr arbeite nicht schnell genug. Er setzte eine Dezernatsüberprüfung in Gang, Jahr bekam eine Büroangestellte des Gerichtspräsidenten zugeteilt. Die sagte später als Hauptbelastungszeugin gegen Jahr aus: Er habe Verfügungen zurückdatiert, um wegen seiner Schludrigkeit eingetretene Verjährungen zu vertuschen. Verfasst hat das Urteil Richter Schwalbe. Jahr ist überzeugt, dass sein Pershing-Verdikt den eigentlichen Anlass für das Verfahren gab. Die Konstruktion der Anklage habe einen „sehr großen Verfolgungswillen“ vorausgesetzt, argumentiert er: „Es muss die Absicht gegeben haben, mich dem System zu entziehen.“
Dem beruflichen Crash folgt der private und wirtschaftliche Ruin. Als die Ermittlungen gegen ihn bekannt werden, kündigen ihm die Banken die Kredite. Seine Baufirma geht pleite, von zweifelhaften Immobiliengeschäften und Vertrauensbruch gegenüber einem Kanzleikollegen ist die Rede. Jahrs Ehe zerbricht, sein Schuldenberg überspringt die Millionengrenze. „Ich war menschlich ganz unten“, sagt Jahr heute.
20 Monate verbringt Jahr im Gefängnis Frankfurt-Preungesheim, im offenen Vollzug – mit Menschen, die er selbst verurteilt hatte. Zehn Monate werden ihm nach Bewährung erlassen. Jahr arbeitet als Justitiar, heiratet wieder, bewirbt sich um den Professoren-Posten in Wilhelmshaven. Viermal in Folge wählen ihn seine KollegInnen zum Dekan, die geplante Schließung des Studiengangs verhindert er erfolgreich. Bei den Studierenden ist er nicht unbeliebt.
Jahr, der Exrichter und Exhäftling, hat mit dem Rechtsstaat nicht gebrochen. Obwohl er sich als dessen Opfer sieht. Er ist lediglich desillusionierter geworden. „Der Rechtsstaat“, sagt er, „ist nur so gut, wie die, die ihn anwenden.“ Und da sieht Jahr noch Defizite.
Auch und gerade in seinem Fall. „Wie soll jemand Recht lehren, der selber Recht gebrochen hat?“, fragen KollegInnen in Wilhelmshaven, und schicken böse alte Zeitungsberichte über ihn herum. Jahr spricht vom „Stigma der Verurteilung“, das einem „Berufsverbot“ gleichkomme, von der „extrem brutalen“ Gesellschaft, die von Strafgefangenen nichts wissen will. Der Rechtsstaat jedoch kennt das Stigma nicht: Er kennt nur das Ziel der Resozialisierung. Jahrs Führungszeugnis ist seit Jahren wieder leer. Arbeitsrechtlich ist er nicht verpflichtet, Vergangenes zu offenbaren. „Für Juristen ist der Sachverhalt völlig einfach“, betont er. Juristisch gilt Hans-Christoph Jahr als unschuldig.
Jahr ist kein Mann, der viele Emotionen zeigt. Er sitzt stundenlang in der gleichen Pose. Ja, der Krieg an zwei Fronten, den die Berichte über seine Haft auslösten, in Bremen und in Wilhelmshaven, natürlich greift der ihn an. Aber Jahr redet darüber nur flüchtig, wie nebenbei. „Ich habe Angst“, sagt er dann, um sich, um seine Familie, und dass das „existenzbedrohend“ sei. „Ich habe mir was aufgebaut“, betont er. Seine Haftstrafe habe er mit Anstand hinter sich gebracht, seine Bewährungszeit tadellos überstanden. Das Insolvenzverfahren geht noch diesen Monat zu Ende. „Dann ist es überstanden“, sagt Jahr. Jahrelang hat er auf diesen Moment gewartet, den Augenblick, an dem „endlich mal alles erledigt ist“. Jahr, 54 Jahre alt, Professor und designierter Rektor der Bremer Fachhochschule, pocht auf sein Recht auf eine zweite Chance.
Umso mehr bringt ihn der „Spießrutenlauf“ in Rage – zumal der „unprofessionelle“. Das Präsidium der FH OOW hat ihn zum Beispiel wegen eines „dienstrechtlichen Verfahrens“ vorgeladen – obwohl er als Angestellter in keinem Dienstverhältnis steht. Oder die FH verlangt plötzlich sein Führungszeugnis – obwohl in seinem Arbeitsvertrag keine Bedingung daran geknüpft ist. „Unprofessionell“ findet Jahr auch, wenn Wissenschaftssenator Lemke unter Verweis auf die hochschulinternen Diskussionen den geplanten Vorstellungstermin absagt, die seiner Behörde unterstellte Hochschule am gleichen Tag aber von Jahr ein Führungszeugnis fordert – „zur Vorbereitung des weiteren Verfahrens zur Bestellung des Rektors“. „Aufgeregter Aktionismus“ sagt Jahr, aber es beruhigt ihn nicht. Der Volljurist hat seine Erfahrungen gemacht. Und er weiß: „Wenn die Politik Oberhand gewinnt, können Sie nichts mehr prognostizieren“.