■ Der Mordvorwurf im Kaindl-Prozeß bricht zusammen: Keine Aura des Politischen mehr
Ein Mensch ist immer Inbegriff von Hoffnung, von Erwartung, er erwartet etwas vom Leben, das Leben erwartet etwas von ihm. Insofern ist ein Mörder unmöglich nichts als ein Mörder (Hegel) und ein Kaindl unmöglich nichts als ein Faschist. Die Abstraktion von der konkreten Person in all ihren Lebensäußerungen, ihre Unterordnung unter eine allgemeine, in der Regel ideologische Kategorie ist bezeichnend für die Denkweise der Rechten, der Faschisten, wohingegen die volle Entfaltung der Persönlichkeit konstitutiv ist für die Utopie der Linken. Eine Tötung, im Namen einer Linken verübt, hat diese Grundlage zu berücksichtigen, sie hat die ihr Handeln womöglich rechtfertigenden Umstände, etwa einer Notwehr, nicht nur zu bestimmen, sondern auch eine Abwägung zu treffen.
Eine solche Abwägung geht aus den Erklärungen der Angeklagten im Kaindl-Prozeß nicht hervor. Kann auch nicht, denn diese erklären vielmehr eindeutig, daß die „Antifacist Genclic“ sich keine Aktionen zum Ziel gesetzt habe, die bewußt zum Tode eines Neonazis führen sollten. Eine – unabhängig von der tatsächlichen Täterschaft – angesichts der erheblichen Strafandrohung verständliche Haltung. Gleichwohl werden von der Gruppe wie auch in linken und autonomen Gruppen Positionen formuliert, die sich im Kontext des Attentates und des Prozesses wie eine politische Rechtfertigung lesen. Von der plakatierten Parole „Kaindl ist kein Opfer“ bis zu der Erklärung, daß man bereit sei, gemeinsam hinzugehen, zu stören und zu verhindern, wenn Neonazis ihre menschenverachtende Politik verbreiten. Ein Abwägen ist also nicht zu erkennen, die Wahrnehmung ist der Dichotomie Faschismus/Antifaschismus unterworfen, in der auch das staatliche Gewaltmonopol auf der Seite des Gegners verortet wird. Solch Proklamationen lassen sich lesen als verquerer Ausdruck einer in täglicher Erfahrung begründeten Angst. Sie sind Manifestationen einer verquasten Lagermentalität, die, handelte es sich nicht um die Tötung eines Menschen und diente sie allein der Selbststilisierung, belächelt werden könnte.
Doch sie wird ernst genommen: von einem Staatsanwalt, dem die Argumentationsmuster seinerseits allzu eingängig und bedrohlich erscheinen, wird in ihnen doch en passant das staatliche Gewaltmonopol in Frage gestellt. Auch die Staatsgewalt, die juristische allemal, abstrahiert von dem konkreten Menschen. Sie ist manchmal sogar zur doppelten Abstraktion in der Lage. Für sie ist ein Mörder notfalls ein Mörder, auch wenn er die Tat nicht begangen hat. In der Anklage wegen „gemeinschaftlichen Mordes aus politisch motiviertem Haß“ spiegelt sich die Selbststilisierung der Angeklagten und ihres Umfeldes, sie ist der staatliche Reflex auf deren antistaatlichen Impetus. Es ist wohl vor allem die Leistung der Vorsitzenden Richterin Eschenhagen, im Laufe der Beweiserhebung hinter den verkrusteten Stereotypen die Menschen wieder zum Vorschein gebracht zu haben. Aus den Angeklagten wurden wieder die unbedarft handelnden Jugendlichen, denen womöglich ihre Spontaneität und Wut zum später bereuten Verhängnis wurden. Und doch sind sie schuldfähig. Dieter Rulff
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