: Der Laborunfall
Als die konservative Macht im Südwesten vor elf Jahren entthront wurde, galt die Landeshauptstadt mit ihrer Aufbruchsstimmung und den lebendigen Protesten als Brennglas für die Republik. Heute sitzt Frank Nopper im Rathaus. Was ist schiefgelaufen?
Von Minh Schredle↓
Wer die Expedition ins Herz der Innenstadt wagt und, vorbei an Schilderwald und Baugruben mit Krater-Charakter, in die Tiefen einer notdürftig weiterbetriebenen Bahnhofsruine hinabsteigt, entdeckt in der unterirdischen S-Bahn-Station ein paar metergroße Infoscreens, über die bisweilen interessante Informationen flackern. Etwa, dass 29 Prozent der Stuttgarter:innen „beabsichtigen, in absehbarer Zeit umzuziehen“. Hoppla! Die Zahl, die nicht gerade als Werbung für die Lebensqualität in der Landeshauptstadt taugt, entstammt einer aktuellen Bürgerumfrage. Ein Blick in das Quellmaterial macht alles noch schlimmer: Bei der Bevölkerungsgruppe zwischen 18 und 29 Jahren sollen es sogar ganze 80 Prozent sein, die gegenwärtig einen Umzug erwägen.
Dabei biete Stuttgart Bauwerke, die Geschichten erzählen, ob „glanzvolle Schlösser“, „wegweisende Neubauten“ oder „mutige Architektur“, wie es in der Selbstdarstellung auf der städtischen Website heißt. Es gebe hier eine „kulturelle Vielfalt mit Weltruf“, obendrein sei die Region „ein innovativer und weltweit führender Industriestandort“. Wie kommt es da, dass die Jugend (und nicht nur sie) der Stadt in Scharen den Rücken kehren will?
Der Geist und seine Flasche
Im Stuttgarter Kessel hat es gebrodelt, wie Kontext-Mitbegründer Josef-Otto Freudenreich vor elf Jahren im „Spiegel“ schrieb. Der Protest gegen Stuttgart 21 – ein als Bahnhofsbau getarntes Geschenk an die Immobilienlobby, das für viele Milliarden Euro langfristige Kapazitätsengpässe im Schienenverkehr zementiert – hatte damals seinen Zenit erreicht: Gegen „Deutschlands dümmstes Großprojekt“ (so die „Süddeutsche Zeitung“) und für ein neues Stuttgart gingen Perlenkettenwitwen vom schönen Killesberg zusammen mit Hartz-IV-Beziehenden vom Hallschlag auf die Straße, Architekten, Ingenieurinnen, Juristen, Professorinnen, Kleinunternehmer, Konservative und Alternative, Protesterprobte und Neulinge. Da habe sich eine Stadt gefunden, schrieb Freudenreich, „die nicht mehr für die biedere Gemütlichkeit steht, sondern für den Aufruhr“. Menschen, die bei aller Verschiedenheit eint, dass sie „nicht unter Niveau belogen werden“ wollen.
Stuttgart 21 war ein Ventil für vieles, was sich damals angestaut hatte. Und der Protest immer auch Ausdruck des Verdrusses über eine kapitalgetriebene Stadtentwicklung, bei der die Lebensqualität zweitrangig bleibt, weil der Profit Priorität hat. Der politische Wandel schien damals zum Greifen nah: Bei den Landtagswahlen 2011 erzielen die Grünen ein Sensationsergebnis, nach beinahe sechs Jahrzehnten CDU-Herrschaft wird die konservative Macht im Südwesten entthront, wenig später folgt auch im Stuttgarter Rathaus auf den Schwarzen Wolfgang Schuster der Grüne Fritz Kuhn.
Zu dieser Zeit sprach der Publizist Jakob Augstein vom „Labor Baden-Württemberg, in dem sich künftige gesellschaftliche Entwicklungen herausbilden“ und schrieb Kontext bei der Gratulation zum ersten Geburtstag ins Stammbuch, dass unsere Zeitung die publizistische Bühne für dieses Geschehen sei. Auf Augsteins Aussagen nahm auch die „Stuttgarter Zeitung“ Bezug (wenig überraschend ohne den und die Kontext zu nennen), und urteilte Anfang 2013 über die Stimmung in der Landeshauptstadt: „Es ist der Geist des Aufbruchs, der sich nicht zurück in die Flasche zwingen lässt.“
Doch Aufbruch und Umsturz sind ausgeblieben, im Land wie in der Stadt. Die Grünen gestalten mit Maß und Mitte, haben mit diesem durchaus populären Kurs ihren Status als Baden-Württembergs neue Volkspartei gefestigt, die CDU inzwischen schon ein zweites Mal zum Juniorpartner in der Landesregierung degradiert – und nichtsdestotrotz: Auch wenn sie bei den Wahlen 2021 mit 32,6 Prozent der abgegebenen Stimmen ein neues Rekordergebnis im Südwesten einfahren konnten, gibt es insbesondere in Stuttgart viele, die sich von der Partei und der versprochenen „Politik des Gehörtwerdens“ mehr erhofft hatten.
Oberbürgermeister Fritz Kuhn ist im Amt farblos geblieben. Und so gilt nach einem guten Jahrzehnt, was vor schon vor 2011 galt: Wer die Bewegungsgesetze des Kapitals studieren will, findet an wenigen Orten der Erde reineres Anschauungsmaterial als in Stuttgart.
Jeder Investor ein Messias
Wie groß war die Freude im Gemeinderat, als das noble Modekaufhaus Breuninger 200 Millionen Euro in die Hand nehmen wollte, um nicht nur einen Konsumtempel, sondern ein ganzes Viertel für Edelmarken und den gehobenen Lifestyle erbauen zu wollen? Herausgekommen ist eine gesichts- und geschichtslose Investorenarchitektur, die mit Lokalitäten auftrumpft wie der Sansibar: benannt nach einer Erdregion, in der das durchschnittliche Jahreseinkommen bei 250 US-Dollar liegt, und mit einer Speisekarte, die Büffel-Currywurst mit Trüffel-Pommes kombiniert.
Neben 20 exklusiven Wohnungen auf den Dächern des Dorotheenquartiers gibt es weitere und prominente Mieter, die dafür sorgen, dass sich das Investment auszahlt: das Sozial- und das Verkehrsministerium – wobei eine Verschwiegenheitsklausel zum Stillschweigen über die Konditionen verpflichtet und die Öffentlichkeit im Dunkeln tappt, mit welchen Kosten diese Spitzenlage die Staatskasse belastet.
Am spürbarsten wird der Ausverkauf sogar unverzichtbarer Grundbedürfnisse an die Welt des Investments auf dem Wohnungsmarkt: Bei einer städtischen Befragung gaben vor Kurzem 86 Prozent an, dass „zu hohe Mieten“ ein großes beziehungsweise sehr großes Problem für sie sind – Grund Nummer eins für Umzugswünsche in einer Stadt, in der viele Menschen noch immer prinzipiell gerne wohnen und gerne weiter wohnen würden.
Wie nun gestaltet sich die Politik des Gehörtwerdens in diesem diffizilen Bereich? Gedrängt von der Not zogen zwei Familien Ende April 2018 ohne Erlaubnis in seit Jahren leerstehende Wohnungen der Wilhelm-Raabe-Straße 4 ein. Die Hausbesetzung im Stadtteil Heslach war ein Signal: Gegen den Mietenwahnsinn, der schon zu diesem Zeitpunkt ein solches Ausmaß angenommen hatte, dass sogar Makler in Anzügen die besetzten Räumlichkeiten besuchten und ihre Sympathien für die Aktion zum Ausdruck brachten.
Für die einkommensarmen Familien endete die Aktion nach einem Monat mit einer Zwangsräumung, die ihnen mit 11.200 Euro berechnet wurde. Immerhin beteuerte der Gemeinderat nach einer Generaldebatte, das Problem erkannt und bereits die Weichen für eine Trendwende gestellt zu haben. Allerdings belegt Stuttgart konsequent einen Spitzenplatz unter Deutschlands teuersten Städten, und vorhandene Mietwohnungen im bezahlbaren Segment verschwinden schneller vom Markt als neue entstehen.
Stuttgart habe sich zu einer „absoluten Katastrophe“ entwickelt, polterte der ehemalige Schauspieldirektor Claus Peymann, entsetzt darüber, wie sich seine frühere Heimat über die Jahrzehnte gewandelt hat: Eine „beschädigte, eine menschenfeindliche Stadt“, sagte er im Gespräch mit den StZN – woraufhin sich der Lokalchef zur Klarstellung bemüßigt sah, dass hier noch „bemerkenswert vieles intakt“ wirke.
Von der Protesthauptstadt zu Nopperhausen
Und natürlich ist nicht alles schlecht. „Das Beste an der Stadt liefert keine Schlagzeilen“, schrieb der Journalist Rüdiger Bäßler einmal in einem Stuttgart-Porträt für die „Zeit“: nämlich „die Selbstverständlichkeit, mit der Kulturen, Religionen und Mentalitäten hier seit Jahrzehnten zusammenleben“, was in der Tat zu den größten Vorzügen Stuttgarts zählt. Die großen Schlagzeilen erzeugt hingegen die Abweichung davon: Etwa wenn nach der sogenannten Krawallnacht im Juni 2020 halb Mediendeutschland von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“ berichtet, weil ein paar Fensterscheiben zu Bruch gegangen sind. Als Reaktion auf Ausschreitungen in der Innenstadt ließ der amtierende Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) die populäre Freitreppe am Schlossplatz absperren, da ihr „regelrechter Bühnen- und Arenacharakter“ Provokateure zur Aufwieglung gegen Polizei und Staat einlade. Da soll sich noch eine:r wundern, dass die Jugend zunehmend mit Stuttgart fremdelt.
Überhaupt verdeutlicht die Personalie Frank Nopper viel über den Stuttgarter Zustand: In der Landeshauptstadt des gesellschaftlichen Labors Baden-Württemberg hat es ein Mann an die Spitze des Rathauses geschafft, der mit dem Slogan „Schaffen statt gendern“ in den Wahlkampf gezogen ist und im Amt dem Gemeinderat vorhält, das Gremium solle statt Sexismus auf dem Volksfest anzuprangern bitte „kein hoher Rat der Tugend- und Sittenwächter“ werden. In seiner Anfangszeit hat der neue OB vieles zur Chefsache erklärt, aber viel lieber als mühselige Sachpolitik sind ihm die repräsentativen Aufgaben. Wie schön ist doch das Weindorf im Vergleich zum Ausschuss für Stadtentwicklung und Technik, in dem sich Nopper so konsequent nicht hat blicken lassen, dass ihm besorgte Stadträte eine offizielle Einladung ausgesprochen haben.
Am strahlendsten aber glänzte der Oberbürgermeister, als er seine beste Idee präsentiert hat: Ein temporäres Riesenrad auf dem Schlossplatz, „Symbol der Zuversicht, des Aufbruchs und des Optimismus“ und, wie in einer Pressemitteilung betont werden musste, „sogar um zehn Meter höher als bei unseren bayrischen Freunden auf der Münchner Wiesn“. Da bleibt eigentlich nur zu hoffen, dass Stuttgart doch kein Brennglas für die Trends in der Republik ist.
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