Der Junge im Ballon : Die Gesellschaft auch!
Skandal!“, ruft sie laut durch die Wohnung. Ich lasse das Salzfass ins Nudelwasser fallen und eile ins Wohnzimmer, wobei ich mir den großen Zeh am Schuhregal stoße. Sie versucht mir zu erklären, was der Anlass ihres Ausrufs war, doch ich verstehe nur Bahnhof. Ein Junge war anscheinend nicht in einem Ballon. „Nein? Sondern?“ Auf dem Dachboden seines Elternhauses! „Wie bitte?“
Also noch mal ganz von vorn: Die halbe Welt hatte live im TV dabei zugesehen, wie ein sechsjähriger Junge in einem nicht kontrollierbaren Heliumballon umherflog und beim Absturz wahrscheinlich sterben würde. Der Ballon stürzte auch tatsächlich ab – doch das Kind war nicht mehr da. So, so. Und? Die Eltern haben sich die ganze Geschichte nur ausgedacht, um ins Fernsehen zu kommen. „Ja, aber es hat doch geklappt!“ Darum gehe es doch gar nicht. Alle hätten gedacht, der Junge sei in Lebensgefahr, auch sie habe die Bilder live im Internet gesehen und sich Sorgen gemacht, doch dann habe der Bengel sich Tage später in einer Talkshow übergeben und die Wahrheit gesagt.
„Dir wäre es also lieber gewesen, er wäre in dem Ballon gewesen?“ Nein, das natürlich auch nicht, aber diese Familie habe nun mal alle an der Nase herumgeführt. Wen alle? „Na die Zuschauer.“
Bleibt die Frage, ob die Tatsache, dass Millionen Menschen stundenlang einem Ballon beim Fliegen zugeschaut haben, weniger skandalös wäre, wenn der Junge nun schwer verletzt oder gar tot wäre?
Solange Nachrichten wie „Hund beißt Mann“ weniger wert sind als „Mann beißt Hund“, wird man so was wohl noch des öfteren erleben, versuche ich ihr zu erklären. Doch sie lässt sich nicht bekehren: „Die Familie gehört eindeutig vor Gericht“, sagt sie trotzig, um dann rehäugig blickend und mit Engelsstimme einzuwenden: „Aber die Gesellschaft auch!“ JURI STERNBURG