Der „Homo Precarius“ lebt mit der Unsicherheit. Aber wie? Heute: Bernd Müller, Hartz-IV-Betroffener : „Mit einem wie mir kann die Arbeitsagentur doch gar nichts anfangen“
Vor dem Termin am Mittwoch graut Bernd Müller jetzt schon. Dann muss er zur Arbeitsagentur und seinen Antrag um ein weiteres halbes Jahr verlängern. Seit einem Jahr lebt der 30-Jährige von Hartz IV, doch auf dem Amt lässt er sich lieber so selten wie möglich blicken: „Ich habe jedes Mal Angst, dass die auf mich aufmerksam werden.“
Seine schlimmste Befürchtung ist, in eine Qualifizierungsmaßnahme gesteckt zu werden. Einem Freund sei das passiert, erzählt er. „Da saßen junge Akademiker und mussten sich erklären lassen, wie eine Internet-Stellenbörse funktioniert. Wie absurd!“
Bernd Müller braucht keine Hilfe beim Bewerbungenschreiben, er braucht einen Job. Aber vom Amt hat er nicht viel zu erwarten: „Mit einem wie mir können die gar nichts anfangen“, sagt er. „Die sind selbst überfordert.“
Bernd Müller ist tatsächlich ein komplizierter Fall. Er fiel zwei Mal durch das Erste Juristische Staatsexamen und verließ die Uni ohne Abschluss. Für juristische Stellen ist er daher nicht qualifiziert. Die Jobs als Casting-Assistent oder Location-Scout beim Film, mit denen er bereits als Student Erfahrung sammelte, gibt es in den Agenturdateien gar nicht. Müllers selbst erworbene Fähigkeiten als Grafiker werden zwar von seinen gelegentlichen Auftraggebern geschätzt, doch ohne Ausbildung gelten sie auf dem Arbeitsmarkt nichts.
Ein Studium der Wirtschaftskommunikation, das er vor zwei Jahren begann, musste Müller wieder aufgeben. Ohne BAföG oder elterliche Unterstützung war er auf mehrere Nebenjobs angewiesen, doch die nahmen schließlich so viel Zeit in Anspruch, dass er seine Scheine nicht mehr schaffte. Ein Teufelskreis. Es dauerte ein halbes Jahr, bis sich Bernd Müller eingestand, dass er alleine nicht überleben konnte – und Arbeitslosengeld II beantragte. Jetzt ist er zumindest wieder krankenversichert und kann etwas ruhiger schlafen. Doch weil er dem Staat nicht gerne auf der Tasche liegt, setzt er sich selbst unter Druck. „Ich muss es schaffen, bald wieder auf die Füße zu kommen“, sagt Bernd Müller. „Das Schwierigste ist, nicht zu verzweifeln.“ Trotz zahlreicher Rückschläge versucht er am Ball zu bleiben, stellt sich morgens den Wecker, geht Stellenbörsen und Tageszeitungen durch, hängt sich ans Telefon, trifft Bekannte mit vielversprechenden Projekten. „Meine einzige Chance sind Kontakte“, schätzt der Arbeitslose seine Lage ein.
Statt mit seinem Lebenslauf versucht er mit seinem sympathischen Wesen und seinem Arbeitseifer zu punkten. Um sein Selbstbewusstsein zu trainieren, engagiert er sich ehrenamtlich als Pressesprecher bei einer Bürgerinitiative – eine Tätigkeit, die er sich vor einem Jahr nicht zugetraut hätte. Manchmal zeitigt seine Hartnäckigkeit Erfolge, dann fällt ein kleiner Auftrag ab oder ein Telefonjob.
Das zusätzliche Einkommen mogelt Bernd Müller an der Behörde vorbei. Ein schlechtes Gewissen hat er nicht: „Wer behauptet, von Hartz IV allein leben zu können, der lügt.“ Das geringe Einkommen ist für ihn Anreiz genug, wieder zu arbeiten. „Mit dreißig hat man ja schon ein paar Ansprüche ans Leben.“ NINA APIN
*Name geändert