piwik no script img

■ Der Historiker Paul Kennedy zum BevölkerungswachstumDie Kluft zwischen Reich und Arm muß jetzt verringert werden

Fünf Jahre nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges hat sich ein zuvor verdecktes Themenfeld offenbart: die demographische Mauer. Fast scheint es, als sei nicht Adam Smith, der Meister des freien Marktes, sondern Thomas Malthus, Prophet der Überbevölkerung, der relevante Denker unserer Zukunft.

Die 5,5 Milliarden Bewohner dieses Globus lassen jedes Jahr 95 Millionen hinzukommen. Jedes Jahrzehnt werden es fast eine Milliarde mehr. WHO und UNO schätzen, daß im Jahr 2025 nahezu 9 Milliarden Menschen auf dieser Erde leben werden, im Jahr 2050 werden es 10 bis 14 Milliarden sein. Die Auswirkungen dieser Entwicklung für Konsum, Produktion, Märkte, Bildung, Umwelt, Krieg und Frieden sind fundamental.

Der Anstieg der Bevölkerung geschieht nicht gleichmäßig. 95 Prozent der vorhersagbaren Verdopplung der Weltbevölkerung werden in ärmeren Gegenden stattfinden: in Indien, China, Lateinamerika und Afrika. In weitaus reicheren Gegenden wird sich der Bevölkerungszuwachs eher verlangsamen oder gar rapide zurückgehen. Einige Weltgegenden werden sich extrem verjüngen (60 Prozent der Kenianer sind unter 15), während andere geradezu vergreisen (20 Prozent der Schweden sind über 65). Gleichzeitig bündelt sich das Kapital des Planeten, all die Wissenschaftler, Universitäten und Forschungseinrichtungen in Gesellschaften, die langsam wachsen oder stagnieren.

All die Impulse, Ideen, kulturellen Visionen, Technologien und Fonds, die das sozioökonomische Leben der Menschheit in diesen Tagen ausmachen und verdichten, gehören der jungen und überfüllten Welt von Silicon Valley, Atlanta, Hollywood, London, Zürich bis Tokio. Im Kontrast hierzu zerfallen Systeme wie die des Kapitals, der Infrastruktur, der Forschung und Entwicklung, der Universitäten und des Gesundheitswesens mehr und mehr.

Vielleicht sind die Zusammenbrüche von Ländern wie Ruanda und Somalia für uns Warnungen, was noch geschehen könnte in Gegenden, wo die Bevölkerung weit zahlreicher und die Infrastruktur viel schlechter ist als zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Um es kurz zu machen: es gibt heute einfach eine große demographisch-technologische Spaltung: einerseits zwischen den schnell wachsenden, jungen, unterkapitalisierten, unterentwickelten Gesellschaften; und auf der anderen Seite den reichen, technologisch innovativen und doch demographisch alternden Gesellschaften. Vielleicht liegt die pointierteste Schneise im Mittelmeerbereich zwischen Nordafrika und Europa. Es gibt noch andere: entlang des Rio Grande in Nordamerika, zwischen Australien und Indonesien.

Die größte Herausforderung der „globalen Gesellschaft“ ist die, daß dieser Graben nicht aufbricht und zu einer Weltkrise wird. Ich stimme mit dem Wissenschaftler und Nobelpreisträger Henry Kendall überein, der sagte: „Wenn wir die Bevölkerung nicht mit Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Güte stabilisieren, dann wird es die Natur tun, brutal und gnadenlos.“ Hierzu brauchen wir all unsere Talente und unseren Erfindungsreichtum. Was, wenn wir all die Wissenschaftler und Ingenieure, die der Kalte Krieg entließ, freisetzten, um Lösungen zu finden? Etwa, was wirklich revolutionäre Sonnenenergie-Systeme anbelangt, die auch auf kleiner, lokaler Ebene technologisch wirken könnten? Was, wenn die reichen Länder endlich ihr zwanzig Jahre altes Versprechen einhielten, 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts der Entwicklungshilfe zu geben?

Ja, man muß andere Prioritäten setzen. Leider focussieren die demokratischen Gesellschaften zu sehr auf Fragen ihrer eigenen Befindlichkeit wie Arbeit und Rezession. Und selbst wenn sie die Art der Langzeitherausforderung begriffen, was wird dann im September bei der wichtigsten UNO-Bevölkerungskonferenz seit zwanzig Jahren in Kairo geschehen? Auch wenn die Konferenz in aller Munde und auf jeder Titelseite der Zeitungen sein wird, ohne die Unterstützung einer besorgten Welt geht es nicht.

Einen Wandel kann es nur geben, wenn der durchschnittliche Mensch begreift, so wie man das heute schon in Umweltfragen tut, daß nur eine globale, transnationale Antwort auf die wachsende demographische Kluft zwischen armen und reichen Gesellschaften dem Planeten eine Überlebenschance gibt. Paul Kennedy

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen