Der Fettmacher und die Zivilcourage : Viel denken in ziemlich kurzer Zeit
Es sieht aus wie ein ganz normaler Streit, auch wenn die Positionen auf der Rolltreppe die Machtverhältnisse nicht völlig korrekt widerspiegeln. Er steht unter ihr und schaut zu ihr auf. Ich stehe einige Stufen dahinter und will gerade schon wieder gelangweilt den Blick abwenden, als mir das Bizarre der Situation bewusst wird. Die beiden kennen sich gar nicht. Er beschimpft sie trotzdem. Er zerrt mit seinen Händen seine Gesichtshaut auseinander und grinst halloweenisch. „So ein breites Gesicht“, sagt er. Da erst beginne ich zu ahnen: Er beschimpft sie wegen ihrer vermeintlichen Hässlichkeit. „So fett, so fett“, sagt er dann. „Dein Freund tut mir Leid.“ Er sagt noch viele andere solcher Sachen. Sie versucht, an ihm vorbeizuschauen. Ich kann sie nur von hinten beobachten. Sieht gar nicht so fett aus, denke ich.
Ist es an dieser Stelle notwendig zu erwähnen, dass er aussieht, als könnte er der Sohn türkischer Einwanderer sein? Muss mir einfallen, dass vor einiger Zeit ein besoffener junger Türke in Hamburg eine Frau vor die U-Bahn gestoßen hat? Einfach so.
Ich schaue ihn an. Er sieht, dass ich ihn anschaue. Wenn ich den Blick aushalte, wird er mir das vermutlich als Beleidigung auslegen. Dann bin ich als nächster dran. Ich würde jetzt gerne „Arschloch“ sagen. Ich weiß auch, wie man zu türkischen Kindern „Na, du bist ja ein ganz ein Toller“ sagt. Während ich ihm für diesen kurzen Moment nur in die Augen schaue, zerrt mein Laptop ängstlich an meiner rechten Schulter. Der Computer möchte sagen: Vorsicht, der Typ könnte gewalttätig sein, was ist, wenn er dich tritt und ich falle auf den Boden? Würde er wirklich handgreiflich werden? Ich kann ein paar Taekwondo-Kicks, aber dafür müsste ich mich aufwärmen. Er scheint ungeduldig. Er würde nicht auf mich warten. Ich höre auf meinen Laptop und gebe auf, fliehe schnell vor seinem Blick – nach wenigen Sekunden. Man kann ziemlich viel denken in ziemlich kurzer Zeit, denke ich.
Irgendwie bin ich unzufrieden mit mir. Sieht so Zivilcourage aus? Aber wie ist das überhaupt. Wenn ein Ausländer in der U-Bahn angemacht wird, sollte man sich für ihn einsetzen. Das ist klar. Wenn ein Ausländer in der U-Bahn anmacht, sollte man sich für die Angemachte einsetzen. Oder für den deutschen Ausländer? Oder zu gleichen Teilen für beide? Muss man anderen helfen, wenn sie beschimpft werden, beleidigt, gedemütigt? Oder erst wenn es ernst wird, wenn jemand schlägt, tritt, verletzt? Bin ich moralisch verpflichtet, einer Frau beizustehen, die wegen angeblicher Fettleibigkeit diskriminiert wird? Warum aber darf die Gesundheitsministerin Renate Künast hauptberuflich fette Kinder diskriminieren und niemand unternimmt etwas dagegen?
Meine Freundin sagt später, dass die Hausratsversicherung den Laptop bezahlt hätte. Im Fall seines Falls. JOHANNES GERNERT