: Der Chancenlosigkeit überlassen
betr.: „Die Grenzen neuer Heimat“, taz vom 4. 11. 05
Schon ein zeichen nix begriffen zu haben, wenn man die situation eines landes, dass zu seinem wirtschaftlichen aufbau tausende von durch wirtschaftliche not gezwungene menschen „deportiert“ hat, ihnen gesagt hat, wenn sie schon hier sind, sollen sie es einfach machen wie hier üblich, (außer die küche, man möchte ja auch mal was exotisches) und sie somit zum aufstieg in die deutsche leitkulturgesellschaft oder zum verbleib in der noch vor kurzem so beschworenen „parallelgesellschaft“ gezwungen hat, mit der situation eines landes zu vergleichen, das durch imperialistische territorialpolitik eine gesellschaftsschicht geschaffen hat, die trotz „offiziell erfolgter integration“ (d. h. für aushändigen eines dokuments für die, die in frankreich geboren sind; ausgeschlossen sind somit vollkommen die sans-papier, eine gesellschaftlich durchaus relevante gruppe) der verzweiflung und chancenlosigkeit überlassen wurde.
den gipfel erreicht der autor jedoch bei der behauptung, in frankreich könne die karte des rassismus nicht so schnell gezogen werden. erstens ist die berufung auf real existierenden rassismus in deutschland wie in frankreich und überall wohl nicht das ziehen einer karte, sondern sicherung von menschenrechten. zweitens wird der alltägliche und in frankreich viel offener zu tage tretende rassismus, gerade durch staat und bullen verübt, von den opfern durchaus geltendgemacht. dass dies in den republikanischen medien einfach keinen anklang findet (die der autor offenbar liest), ist nur ein weiterer beweis für die tatsache, wie tief er in der französischen gesellschaft verwurzelt ist. drittens würde mich interessieren, gerade angesichts der immer laufenden pisa-debatten, ob der anteil von migrantenkindern an der abiturquote genauso hoch ist wie der am bac (franz, abi). der autor macht, wie viele, den großen fehler, die krawalle einfach als integrationsproblem darzustellen, anstatt die wahren ursachen, die soziale verelendung im kapitalistischen system und das an den rand drücken der als „marktwirtschaftlich wertlosen“ herauszustellen. (zur berufung auf die deutschen kardinaltugenden kann sich wohl jeder seine gedanken machen.)
NIKOLAS VATANT, München
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