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taz FUTURZWEI

Der Bullshit-Wort-Check, Folge 11 „Bürgerlich“

Was taugt dieser Begriff für das Verständnis der Gegenwart? taz FUTURZWEI-Gastautor:innen testen Standards des politischen Sprechens. Heute: Carla Reemtsma.

Was heißt das eigentlich, „bürgerlich“? Carla Reemtsma im taz FUTURZWEI Bullshit-Wort-Check Foto: Craig McLachlan/Unsplash

taz FUTURZWEI | Kaum ein Tag vergeht, ohne dass Politiker*innen oder intellektuelle Vordenker*innen „bürgerliche Politik“ einfordern oder die aktuelle Politik als den Interessen der „bürgerlichen Mitte“ zuwider betiteln. Aber was soll das eigentlich sein? Das scheinen nicht einmal diejenigen zu wissen, die sich ständig dieser Floskel bemühen. Aus diesem Grund betritt das Bürgerliche fast immer zusammen mit seinen Floskelkumpels die politische Diskussion: pragmatisch, vernünftig, unideologisch. Weil der „bürgerlichen Politik“ die Inhalte und Ideen fehlen, werden die anderen als unnötig kompliziert, ideologisch, unvernünftig gebrandmarkt. Hängen bleibt: Die Vorschläge von Klimaaktivist*innen, Sozialdemokrat*innen oder Feminist*innen seien unsinnig und dogmatisch. Auf keinen Fall bürgerlich. Was aber bürgerlich ist, bleibt völlig unklar.

taz FUTURZWEI N°30

taz FUTURZWEI – das Magazin, Ausgabe N°30: Wer ist das Volk? – Und warum ist Rechtspopulismus so populär?

Warum der Rechtspopulismus global und in Ostdeutschland so erfolgreich ist, können wir analysieren. Wie man ihn bremsen kann, ist unklar.

Diesmal im Heft: Jens Balzer, Ines Geipel, Jagoda Marini , Maja Göpel, Aladin El-Mafaalani, Thomas Krüger, Yevgenia Belorusets, Danyal Bayaz und Harald Welzer. Veröffentlichungsdatum: 10. September 2024.

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Anderswo wird zwischen dem Bürger als Staatsbürger mit bestimmten Rechten und Pflichten und dem Bürger als Angehörigen des Besitz- oder Bildungsbürgertums unterschieden. Die deutsche Sprache macht das nicht. Stattdessen existiert das Bürgerliche als eine vage Idee, die unter dem Deckmantel des angeblich Vernünftigen moralische Überlegenheit impliziert, obwohl sie sich so sehr gegen das Moralisieren der anderen sträubt. Und nun kommt die Pointe: Die Turbulenzen des 21. Jahrhunderts verlangen nach dem, wofür das Bürgerliche zu stehen meint.

Denn auch, wenn es keine kohärente kollektive bürgerliche Identität gibt, ja auch nie gab, sind die Grundideen einer Verantwortung, die über einen selbst hinausgeht, und die Werte der Freiheit, Demokratie, Weltoffenheit und Menschenrechte, heute genauso aktuell wie vor mehreren Jahrhunderten. Auf dieses theoretische Erbe berufen sich die Verfechter*innen „bürgerlicher Politik“, während sie gleichzeitig bei der Frage der praktischen Umsetzung vor Ideenlosigkeit nur so strotzen. Übrig bleibt ein regelmäßiger Rückgriff auf die Floskel, die keinen eigenen Inhalt mitbringt, außer sich von anderen abwertend abzugrenzen. Das 21. Jahrhundert sucht seine Bürgerlichkeit noch.

■ CARLA REEMTSMA ist Klimaaktivistin.

Dieser Artikel ist im September 2024 in unserem Magazin taz FUTURZWEI erschienen. Wenn Sie zukünftig regelmäßig Leser:in von taz FUTURZWEI sein wollen, sichern Sie sich jetzt das Abo für nur 34 Euro im Jahr. Lösungen für die Probleme unserer Zeit – alle drei Monate neu in ihrem Briefkasten. Jetzt bestellen!