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Archiv-Artikel

Der „Boden“ und die „Flieger“

betr.: „Solidarität macht mächtig“, taz vom 1. 8. 08

Der Autor beschreibt den Lufthansa-Streik als eine Demonstration dafür, dass Solidarität auch heute noch funktioniert. Beim Beispiel Lufthansa war es 2008 relativ einfach, über 90 Prozent der Ver.di-Mitglieder für Streik zu bewegen – es ging ja „nur“ um Lohn- und Gehaltssteigerungen, und es ging um gleiche Prozente für alle.

Bei den Sanierungsnotwendigkeiten 1991/92 haben dagegen die Piloten enorme Zugeständnisse an den Arbeitgeber gemacht, während die Ver.di-Vorgängerin ÖTV für das vorhandene Kabinenpersonal kaum Abstriche hinnehmen wollte. Stattdessen hat man einer Absenkung der Gehaltstabellen für später einzustellende Flugbegleiter zugestimmt. Der Vorgang wirkt auch nach über 15 Jahren noch nach: Heute müssen vollzeitbeschäftigte neueingestellte Flugbegleiter in München Wohngeld beantragen. Das Kabinenpersonal hat sich von Ver.di abgewandt und vertritt sich mit der UFO selbst, fordert selbstverständlich bei 50 Prozent Organisationsgrad mehr Prozente als Ver.di erreicht hat. Als die Piloten nach erfolgreichem Turnaround im Jahre 2000 den 1992 unterschriebenen Wechsel einlösen wollten, hat sich der Arbeitgeber geweigert und die Großgewerkschaften haben jegliche Unterstützung versagt. Weder die ÖTV (bis in die 70er) noch die DAG (bis in die 90er) haben sich jemals ausreichend um die gruppenspezifischen Belange der fliegenden Minderheiten gekümmert. Und weil das Betriebsverfassungsgesetz hier nicht greift, haben diese Mitarbeitergruppen auch kaum Mitbestimmungsrechte wie sie etwa Betriebsräte haben. Aber warum sollten die Bodenmitarbeiter dafür streiten, dass die Flieger im Betriebsrat vertreten sind, und ihnen dort einen Teil ihrer „Macht“ abtreten?

Es ist menschlich nachvollziehbar, dass der mehrheitliche „Boden“ den zahlenmäßig unterlegenen „Fliegern“ jahrzehntelang die Solidarität verweigert hat, und die Firma hat davon profitiert. Aber das rächt sich jetzt: Demnächst werden wieder stundenlang (in der Warnstreikphase) viele Flugzeuge am Boden bleiben, weil die Piloten diverse Belange (die nichts mit Bezahlung zu tun haben) endlich geregelt haben wollen. Und Anfang 2009 wird die UFO mit denselben Mitteln versuchen, ihre Gehaltsforderungen durchzusetzen.

Die jahrzehntelange Solidaritätsverweigerung in den Massengewerkschaften gegenüber berechtigten spezifischen Interessen kleiner Gruppen hat die „Spartengewerkschaften“ der Ärzte, Lokführer, Flugbegleiter, Piloten etc. erst heraufbeschworen.

KURT HEEGER, MAINZ (Flieger, ehemals ÖTV-Mitglied)