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Der 9. November — ein Jahr nach dem Fall der MauerDer Beton ist weg, die Mauern sind geblieben

■ 9. November 1989: Mit der Vereinigung der Deutschen begann die Trennung, die Trennung von Osteuropa, die Trennung im vereinten Berlin. Was hat der Fall der Mauer der Stadt gebracht — außer dem chronischen Defizit? Die Mauer ist weg, und hervorgekommen ist eine Innenstadt im Rohzustand, ohne Verkehr und ohne Menschen.

Angeblich gab es hier Euphorie, massenweise. Je nach politischer Couleur wurde sie beschworen oder verdammt, die Vereinigungseuphorie. Der 9. November, die größte Massenbegegnung der Geschichte, Millionen von Menschen, die Berlin zum Ort machten, an dem die Trennung aufhörte. Katharsis einer geteilten Nation? Urzeugung der neuen mitteleuropäischen Großmacht? Nein, derlei große Gefühle hatte die Stadt nicht geboten, nicht am 9. November und auch nicht später. Aber es gab eine Menge anderer großer Gefühle der kleineren Art: das Aufatmen über das Ende eines nicht haltbaren historischen Zustandes, die Wiederkehr der Stadtgeographie unter den Trümmern des Ost-West-Verhältnisses, die Rückwendung von der Weltgeschichte zum Umland, die Abfolge der Ersten-Male, des ersten Gangs über die Glienicker Brücke, der erste Halt im U-Bahnhof „Stadtmitte“, das Flanieren der Massen im anderen Gesellschaftssystem, Stadtspaziergänge, Geschichtsspaziergänge. All das war Realität, waren reale Erfahrungen. Allein die Tatsache, daß Millionen Menschen unbelastet und ohne Angst, auf ihre Art, ihrer Neugier folgend, an einer Epochenwende beteiligt waren, sollte doch auch noch nach einem Jahr spürbar sein.

Berlin, Stadt der Vereinigung, ein Jahr danach? Wenn es Euphorie gab, so ist sie restlos zerstoben. Natürlich gibt es Spuren allenthalben, die irritierende Erfahrung, wie sich ein frisches Erlebnis allmählich zum Denkmal verwandelt, so wie am einstigen Checkpoint Charlie die Schlagbäume und Utensilien der ehemaligen Grenze, die Bunker, Wachtürme und Drahtzäune nun die blauen Rauten von Kulturdenkmälern tragen. Auch der Kleinhandel, der die Insignien des einstigen Staatsapparates, von Orden bis zu den Uniformmützen, vertreibt, ist so etwas wie ein Devotionalienhandel der Epochenwende geworden. Die anarchische Utopie des Staatszerfalls ist kaum noch spürbar. Aber Berlin selbst ist die Verdichtung der Vereinigung. So wie seit einem Jahr die Vereinigung als Kostenfrage behandelt wird, ist Berlin ein einziger Kostenfaktor der neuen Republik. Berlin kämpft um den Regierungssitz, nicht im Namen einer Idee, sondern aus Angst vor dem Defizit. So wie mit der Maueröffnung die Armut des Ostens in Berlin angekommen ist, versucht sich Berlin mit dem Hauptstadtgedanken aus dem Bannkreis des Ostens herauszuziehen. Metropole des Ostens — das ist für die Berliner Politik keine Vision eines vereinigten Europas, sondern der Alptraum eines chronischen Defizits.

Angesichts dieser Vereinigungsprosa ist die Frage nach einem Stadtbild wohl luxurierend. Aber eine Stadt ohne Stadtbild, ohne ein gemeinsames Bild von der Stadt, ist eine schwer zu ertragende Vorstellung. Schon der große Stadtplaner Colin Rowe hat vor zehn Jahren in West-Berlin eingeklagt, es gebe keinen bedeutsamen Dialog zwischen Res publica und Res privata. Jetzt, in der Stadtkultur des Defizits, fehlt selbst die Idee, daß ein solcher Dialog überhaupt denkbar ist. Aber es ist schwer möglich, nicht über das Stadtbild zu reden. Die beiden Stadthälften waren eine Mixtur aus den Monumenten der historischen Größe, aus den geschichtsvernichtenden Akten des Wiederaufbaus und aus innerstädtischen Brachen. Natürlich gab es Ost-West-Unterschiede. Der klassizistische, wilhelminische Stadtkern im Osten wurde verknüpft mit Magistralen, deren Fortsetzung in direkter Linie bis nach Nowosibirsk und Alma Ata ging. Im Westen mußte man mit dem Kompromiß von Stadtkonservierung und „Vulgärmoderne“ (Siedler), von behutsamer Stadterneuerung und Cité radieuse leben. Die zersetzende Utopie der Brachflächen, der Stadtraum im unausgefüllten Raum und die ganze Mixtur einer politisierten Nachkriegsarchitektur, der unausgesprochene Kampf von Frontstadtplanung und Hauptstadtplanung, all das war allein durch das gebannt, was am 9. November fiel: die Mauer. Die Mauer war der Rahmen, der die chaotische, widerstreitende, sich negierende und verdoppelnde Stadt ästhetisch verband.

Die Mauer ist weg, und hervorgekommen ist eine Innenstadt im Rohzustand. Innerstädtische Straßen ohne Verkehr, ohne Menschen, provisorische Parkplätze und Reklameflächen, märkischer Sand inmitten der Stadt. Nicht nur das: Die Stadt selbst ist zum Rohzustand verwandelt. Es fehlen Brücken, Straßenverbindungen — entlang der Mauer hat die Stadt zu beiden Seiten ein System von Sackgassen geschaffen. Die verbindenden Debatten fehlen ohnehin. Irgendwie haben sich im inneren Erleben die Brachflächen ausgeweitet. Ein diffuser ungefaßter und verstörender Stadtraum breitet sich dort aus, wo die Mauer war — umstanden vom Nachkriegsberlin, vom Ästhetizismus der IBA, von den Bauruinen der ehemaligen Hauptstadt. Überall kann geträumt werden, wie die Stadt war, wie sie sein könnte. Aber der Traum mißlingt, denn man weiß, daß die Innenstadt schon längst unter den unsichtbaren Zugriffen der Investoren steht, und an den historischen Gebäuden, an der Museumsinsel, am Deutschen Dom, am Scheunenviertel sind Milliardensummen längst ablesbar, die sie zur Instandhaltung brauchen. Ganze Stadträume sind jetzt schon Streitgegenstand von künftigen Zivilprozessen. Ebenso roh wie die Stadträume ist die Stadtgesellschaft verbunden. Genaugenommen ist das erste Jahr der vereinigten Stadt ein Jahr, in dem die Trennung heraufdämmert. Die Mauer ist verschwunden, die gläserne Wand wächst. Daß die Mehrheit der Ostberliner den Boden unter den Füßen verloren hat, wird im Westen nicht wahrgenommen. Ostberliner Arbeitslosigkeit ist etwas, was „drüben“ geschieht. Ostberliner Angestellte lassen sich stumm erklären, was eine demokratische Verwaltung ist. Greifen sich die Broschüren und verschwinden mit der unausgesprochenen Frage, ob sie wohl im nächsten Jahr noch zur demokratischen Verwaltung gehören werden. Wer als Westler seinen Wochenendeinkauf im Osten macht — aber wer tut das schon — wird nicht nur die identischen Waren, nicht nur holländische Tomaten und „Danone“-Joghurt entdecken, sondern auch das depressive Schweigen der Kunden, die wie Emigranten im eigenen Land die neuen ungeschriebenen Gesetze zu begreifen versuchen. Posttotalitäre Melancholie herrscht da und keine blühende Marktwirtschaft. Wer hinhört, merkt, wie selbstverständlich inzwischen im Osten von Kolonisierung, von westlichen Kolonialbeamten gesprochen wird. Was verbindet diese Stadt? Das Schleifen der Mauer? Kaum. Das klingt wie eine ferne Mär. Die Politik hält sich mit derselben Energie, wie jemand in einer Massenpanik nach seiner Handtasche sucht, ans Handgreifliche, an das Defizit der öffentlichen Verwaltung und an die Verkehrsprobleme. Vereinigung findet eher an den Rändern statt, an den Märkten mit geschmuggelten Zigaretten, an den besetzten Häusern, im Pornoangebot. Nur eines verbindet die Stadtbürger wirklich: Das ist der Stau in der Innenstadt. Im Stau allein wird die Stadt erlebt. Klaus Hartung

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