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Depression und Demokratie"Nur glücklich zu leben ist unvorstellbar"

Für Alain Ehrenberg sind Melancholiker Ausnahmemenschen in früheren elitären Gesellschaften. In den heutigen Demokratien verliert die Melancholie ihre heroischen Momente und wird zur Depression.

In "Das erschöpfte Selbst" hat Alain Ehrenberg argumentiert, dass die Zunahme depressiver Symptome in den westlichen Ländern im Kontext der allgemeinen Ausbreitung einer "Kultur der Autonomie" gesehen werden müsse. Vom Einzelnen werde heute weniger Disziplin und Gehorsam denn individuelle Initiative erwartet. Darum wurde Ehrenbergs Buch auch als Kritik an einer neoliberalen Ideologie verstanden, die von allen verlange, das eigene Leben "frei" zu gestalten - und zwar unabhängig von den sozialen Möglichkeitsbedingungen einer so gearteten Freiheit.

Bild: archiv

Alain Ehrenberg ist Soziologe und Direktor des Centre de Recherche Psychotropes, Santé Mentale, Société in Paris

VOLKSKRANKHEIT

Depression gilt als Volkskrankheit. Nach einer Statistik des Informationsdienstes Wissenschaft erkranken 18 % der Bevölkerung in der BRD im Laufe ihres Lebens mindestens einmal an dieser "häufigsten aller psychischen Störungen". Für Alain Ehrenberg ist der Siegeszug der Depression ein Effekt sich wandelnder Werte: "Die Depression ist die Krankheit einer Gesellschaft, deren Verhaltensnorm nicht mehr auf Schuld und Disziplin gründet, sondern auf Verantwortung und Initiative." Die Anforderung, sich immer wieder selbst neu zu erfinden, führe bei immer mehr Menschen zu Erschöpfung und eben Depression. Viele haben seine These dann auch so verstanden, dass die Strukturen einer neoliberalen Gesellschaft die Menschen depressiv machen. Zwar lehnt der Autor diese Kausalitätszuschreibung inzwischen ab. Dennoch verweist die Depression auf Probleme, an denen gesellschaftliches Handeln heute einsetzen muss. 2004 erschien Ehrenbergs Buch "Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart" im Campus Verlag auf Deutsch. Ehrenberg ist Direktor des Forschungszentrums Cesames (Centre de Recherche Psychotropes, Santé Mentale, Société) in Paris und nahm zum Thema im Sommersemester an einer Veranstaltung der Universität Postdam teil.

taz: Ist die Depression das zeitgenössische Gesicht der Entfremdung?

Alain Ehrenberg: Ich glaube nicht, dass Gesellschaft auf unmittelbare Weise psychische Pathologien verursacht. Aber im Gegensatz zu früher sind psychische Erkrankungen heute eher Anlass, Probleme unseres "way of life" zu thematisieren. Wenn es heute um geistige Gesundheit geht, geht es nicht mehr nur um Gesundheit, sondern auch um die Gesellschaftlichkeit des modernen Menschen.

Und häufig um Depression?

"Depression" ist in der Psychiatrie heute ein vager Sammelbegriff für eine ganze Reihe psychischer Störungen, die erst in unserer Gesellschaftsformation als Problem hervortreten. In einem System, das mechanischen Gehorsam verlangte, waren Hemmungen beispielsweise nicht so sichtbar. Heute hat sich die Situation verändert. Da von allen erwartet wird, autonom zu handeln, ist Hemmung heute ein großes Problem. So gesehen können wir, wenn wir psychische Pathologien im sozialen Kontext betrachten, Dilemmata und Konflikte artikulieren, die mit unserer Lebensweise zusammenhängen - und dann auch entsprechend handeln.

Die Frage wäre, wie?

Ich habe den Eindruck, dass sich die Gesellschaftskritik in diesem Zusammenhang häufig nostalgisch eine Zeit zurückwünscht, in der wir zwar neurotisch waren, dafür aber auch geschützt von sozialen Strukturen. Mir ist das zu romantisch. Wir leben heute in einer anderen Gesellschaft mit neuen Beschränkungen und neuen Freiheiten. Entsprechend muss man auch das Problem sozialer Ungleichheit heute anders denken. In einer Gesellschaft, für die der Wert der Autonomie zentral ist, muss man die Frage stellen, unter welchen Bedingungen die Menschen überhaupt zum autonomen Handeln fähig sind. Es geht dann um das Problem der Befähigung.

Auf wen würden Sie sich in ihren Überlegungen dabei positiv beziehen?

Es gibt bereits einige, die dieses Problem angehen. Denken Sie an Amartya Sens Theorie einer Gleichheit der Fähigkeiten und Kompetenzen oder an den dänischen Soziologen Gøsta Esping-Anderson und seine Theorie der Erziehung. Es geht darum, auf dem Gebiet kognitiver und sozialer Fähigkeiten neue Strategien zur Bekämpfung der Ungleichheit zu entwickeln. Dass das einen Unterschied macht, kann man sich verdeutlichen, wenn man die Vereinigten Staaten mit Skandinavien vergleicht. Jedenfalls kann man im Namen der Autonomie des Individuums auch für soziale Interventionspolitik streiten - das ist kein Widerspruch.

Sie sagen, die Depression sei die typische Pathologie des demokratischen Menschen. Heißt das, dass Depression die notwendige Kehrseite des Lebens in Demokratien ist?

Ja. Die Melancholie war die Krankheit des Ausnahmemenschen. In der Demokratie soll nun jeder prinzipiell ein Ausnahmemensch sein können. Mit dieser Demokratisierung verliert die Melancholie aber ihre heroischen Momente, sie wird zur Depression, zu einer bloßen Krankheit.

Ist das also der Preis, den wir zahlen müssen?

Natürlich muss man einen Preis für die Autonomie zahlen. Aber ich würde das nicht überbewerten. In jedem Gesellschaftstyp gibt es bestimmte Probleme, die die Kehrseite der positiven Werte bilden. Sorgen sind ein Bestandteil menschlichen Lebens - unsere sind auf die Ideale unserer Gesellschaft bezogen; Gesellschaften, in denen andere Werte als die Autonomie im Vordergrund stehen, haben andere Sorgen. Ein nur glückliches Leben kann man sich nicht vorstellen.

Ihr Buch handelt auch davon, dass die Depression heute vornehmlich mit Pillen behandelt wird. Dadurch wird der Diskurs über die Konflikte zurückgedrängt. Sichtbarkeit von Konflikten wäre aber für jede Demokratie substanziell?

Wir müssen in der Tat über die Psychologie hinausgehen, über die individualistische Perspektive auf das, was in den Köpfen der Leute vorgeht. Man muss vielmehr die aufs Individuum verengte Perspektive selbst in ein Verhältnis zur Generalisierung des Werts der Autonomie setzen, wie sie sich derzeit gesamtgesellschaftlich vollzieht. Wir sind mit neuen Lebensläufen konfrontiert, und neue Lebensformen beeinflussen Familie, Arbeit, Erziehung und das Verhältnis zwischen den Generationen; zugleich haben wir das Ende des Wohlfahrtsstaats bezeugt. Individuelle Verantwortung ist heute eng mit den Idealen der persönlichen Leistung und Initiative verbunden. Wir leben in einem Gesellschaftstyp, in dem jede und jeder sich persönlich in vielfältigen sozialen Situationen einbringen muss. Das ist der Horizont unseres gemeinschaftlichen Lebens; egal, welche Position dem Einzelnen in der sozialen Hierarchie tatsächlich zukommt.

Es geht um Selbstbestimmung?

In der jetzigen Gesellschaftsformation ist die individuelle Subjektivität zum zentralen Thema geworden, so wie auch die selbstbestimmte Handlung heute das größte Prestige genießt. Die selbstbestimmte Handlung wird am meisten respektiert, aber von ihr wird zugleich am meisten erwartet. Dieses Ideal bestimmt einen Großteil unseres Alltags, es ist in unsere Gebräuche und unsere Institutionen eingezogen.

Hat man es aber dann nicht mit einem Typus von Gesellschaft zu tun, der seine eigene Gesellschaftlichkeit verdeckt? Weil sich die Anforderungen an das Individuum als Anforderungen seiner Natur - "So sind Menschen eben" - verkleiden?

Wir haben es nicht mit einem Verschwinden von Gesellschaft zu tun, wie manche meinen. Das zu denken wäre vielmehr selbst eine Spielart des Individualismus. Wir müssen die Umstellung auf den Wert der Autonomie als soziales Phänomen verstehen. Dann wird deutlich, dass sich die Gesellschaft und ihre Institutionen nicht einfach auflösen. Vielmehr haben wir es mit neuen Freiheiten und Zwängen zu tun, an denen sich die traditionelle demokratische Spannung zwischen Bindung und Auflösung erneuert, die schon Tocqueville beschrieben hat.

INTERVIEW: JULIANE REBENTISCH (Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Universität Potsdam, Lehrstuhl für Ethik und Ästhetik) UND FELIX ENSSLIN (Freier Publizist, Dramaturg in Weimar und Kurator)

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3 Kommentare

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  • A
    anke

    Habe ich eure Zusammenfassung richtig verstanden, liebe taz? Für Alain Ehrenberg, schreibt ihr, wären heutige Demokratien keine elitären Gesellschaften, und deshalb könnten moderne Ausnahmemenschen seiner Ansicht nach auch nicht heroisches-melancholisch sein, sondern höchstens krankhaft depressiv? Meine Güte! Da sage noch einer, Gesellschaft könnten nicht unmittelbar pathologisch wirken!

     

    In einer Gesellschaft, für die der Wert der Autonomie zentral ist, muss man die Frage nach den Bedingungen stellen dürfen, unter denen Menschen zum autonomen Handeln fähig sind, da gebe ich Alain Ehrenberg Recht. Nachdem ich aber eins und eins zusammenzählen kann, frage ich mich auch: Was, wenn nicht das Heroische, macht ihn überhaupt aus, den (modernen) Ausnahmemenschen? Gibt es denn bereits konkrete Vorstellungen vom unheroisch-exotischen? Wie lassen sich diese Vorstellungen mit dem Umstand vereinbaren, dass individuelle Verantwortung hier und heute so eng mit den Idealen persönliche Leistung und Initiative verbunden ist? Muss, wer sich vielfältig aber wirksam einbringen will, nicht auch heute noch zum Helden geboren sein? Und wenn denn in dieser Gesellschaft tatsächlich jeder prinzipiell ein Ausnahmemensch ist – ist dann das Deutschland des Jahres 2008 nicht um einiges elitärer, als alle Deutschländer vor ihm: vollständig nämlich? Geht es in Gesellschaften, die komplett auf Individualismus ausgerichtet sind, tatsächlich irgendjemandem darum, kognitive und soziale Fähigkeiten oder Strategien zur Bekämpfung der Ungleichheit zu entwickeln? Wenn ja – wäre eine solche Zielstellung noch mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik vereinbar?

     

    Ich habe keine Ahnung, was Tocqueville seinerzeit beschrieben hat. Dass ein Ideal (welches auch immer es sein mag) einen irgendwie gearteten Alltag aber nur dann bestimmen kann, wenn es Institutionen gibt, die Freiheiten gewähren und Zwänge verhängen, scheint mir gewiss. In sofern blicke ich zwar nicht heroisch, aber durchaus melancholisch und dabei überhaupt nicht depressiv auf das Geschehen um mich her und diagnostiziere ebenso ungebeten wie fröhlich: Hier und heute ist nicht mehr der Einzelne schizophren. Hier und heute ist der Patient ein Konstrukt. Ein Konstrukt, das man Gesellschaft nennt.

  • HK
    Hans-Jürgen Kapust

    Freiheit, Selbstbestimmung, ja nicht zuletzt die Betonung auf Individualität sind das nicht Werte, die von den Marketingstrategen hochgehalten werden, um den Verkauf von sonst gar nicht benötigten Produkten zu fördern ?

    Waren nicht selbst noch in den so auf Gehorsam und Disziplin getrimmten Gesellschaften weit mehr Menschen davon überzeugt, dass ihr persönlicher Einsatz gesellschaftlich etwas bewegen kann, als heutzutage, wo "die da oben doch machen, was sie wollen"?

    Die modernen Formen von Depression mit der heroischen Melancholie in Verbindung zu setzten, ist ein kulturhistorisch sicher nicht uninteressant. Besser ist es, nach den wirklichen Ursachen für das "erschöpfte Selbst" zu fragen. Wie wäre es mit dem bis an die Grenzen der Schizophrenie gehenden permanenten Klassenkampf im Gehirn, im Innen-Verhältnis der Menschen zu sich selbst? Nämlich die Anforderung, zugleich mikro-ökonomischer Kapitalist und Ware Arbeitskraft sein zu müssen!

    Gesellschaftliche Analysen, die sich nicht auf die politisch-ökonomischen Verhältnisse beziehen, verschleiern mehr als sie aufzudecken versprechen.

  • JB
    Joachim Bessell

    Muss nun auch die TAZ schon in die Trickkiste greifen, um Leser zum Lesen zu animieren? Die Überschrift Ihres Artikels zitiert eine Aussage die Ehrenberg im Artikel selbst nicht gemacht hat. Dort sagt er,

    "[...] Gesellschaften, in denen andere Werte als die Autonomie im Vordergrund stehen, haben andere Sorgen. Ein nur glückliches Leben kann man sich nicht vorstellen."

    Keine Rede von "unvorstellbar" und es bleibt offen, ob diese Aussage auf unsere Gesellschaft bezogen ist oder auf die zuvor beschriebene.

    Vielleicht wäre es besser, ganz auf solche Tricks zu verzichten?