Denkgebäude hinterfragen : Natürlich bin ich Realist!
Es wimmelt vor Realisten. Unser Autor sagt: Wer sich keine Illusionen machen will, muss bereit sein, die eigene Haltung zu verändern.

taz FUTURZWEI | Fragt man die Leute, ob sie mit beiden Beinen im Leben stehen, dann kommt die Antwort schnurstracks: „Ja, was denn sonst?!“ „Ich mache mir keine Illusionen.“ Wohin man auch geht, überall Realisten durch und durch, bis zum Horizont.
Doch Obacht. Wer sich so klar als Realo fühlt, an gar nichts zweifelt, und dessen Antwort auf die Frage einen leicht beleidigten Unterton hat („Natürlich bin ich Realist – was denn sonst?“) macht sich, jedenfalls bei mir, sofort verdächtig.
Meine persönliche Empirie sagt mir: Diese Realos sind Fundis, die sich verstellen. Niemand will ein Fundi sein. Fundi ist gleichbedeutend mit Starrsinn und Veränderungsunwilligkeit. Fundis lernen nicht. Fundis sind selbstgerechte Trottel, die ihre Borniertheit mit Haltung verwechseln.
So fängt das Elend schon mal an: Haltung ist, wenn man genau hinsieht auf die Welt und was in ihr geschieht – bereit zum Ändern, auch, was sich selbst angeht. Fundis machen so etwas nicht. Sie bleiben bei ihrem Weltbild. So schief kann das nicht hängen. Für einen Hammer, sagt man auf den Philippinen, sieht eben alles aus wie ein Nagel.
2. Illusionen
Früher gab es den schönen Beruf der Illusionisten, also Bühnenmagier, die den Leuten eine Wirklichkeit vorspielten, die es nicht gab. Wir kennen das.
Kaninchen aus dem Hut, Jungfrau durchsägen, im Magnesiumblitz verschwinden und so. Das alles wurde bestaunt, weil die Leute Illusionen eigentlich sehr gern mögen. Illusion bedeutet so viel wie Sinnestäuschung, man lässt sich reinlegen, nimmt die Wirklichkeit, die Realität, anders wahr, als sie ist.
Wolf Lotter ist Autor und Journalist mit den Schwerpunkten Transformation und Innovation. Er ist Gründungsmitglied von PEN Berlin.
In der taz FUTURZWEI schreibt er regelmäßig die Kolumne Lotters Transformator. Im November erscheint von ihm: Digital Erwachsen: Streitschrift für mehr natürliche Intelligenz. Haufe 2025, 220 Seiten, 22 Euro.
Auf diesem Geschäftsmodell bauen Religionen, Ideologien, Bubbles und derlei anderer fauler Zauber seit Langem auf. Es gibt auch Varianten.
So veröffentlichte der Psychologe Paul Watzlawick ein Buch namens Wie wirklich ist die Wirklichkeit?, und das verkaufte sich im Post-68er-Milieu wie verrückt. Watzlawick konnte gut schreiben, gut reden und sah auch noch gut aus – Bestseller versteht sich.
Nun muss man sagen, dass Watzlawick für sein Aussehen nichts konnte, für seine Schreibe und seine Schläue schon. Das Buch ist großartig, weil es die populäre Vorstellung zerlegt, dass unsere Wahrnehmung uns nicht übers Ohr haut. Wir leben in Zeiten, in denen die meisten Menschen glauben, dass die sogenannte KI denkt, was Blödsinn ist, aber langsam zum „Kanon“ wird, also zum standardisierten Blödsinn.
Das liegt daran, dass digitale Technologie so auf die Simulation scheinbarer Echtheit hin entwickelt wurde, dass den meisten der Unterschied zwischen echt und falsch nicht mehr auffällt. Wir glauben, was wir sehen und hören, aber das, was wir sehen, zweifeln wir kaum an.
Deshalb glaubten die Leute viele Jahrhunderte, wenn sie in Kirchen eine Gipstaube sahen, der Heilige Geist persönlich wäre anwesend und stellten für die Zeit der Messe das Lügen und Betrügen ein, geht ja schnell vorbei. Das Glauben ist die Hauptbeschäftigung der Fundis, daran ändert sich nie was. Deshalb beachtet niemand den Faden, an dem – mit KI und ohne – der Gipsvogel durch soziale Netzwerke flattert, durch Medien, durch den Freundeskreis. Überall regiert der Heilige Geist, jedenfalls dann, wenn es zu den eigenen Illusionen passt.
Die kulturelle Basis dafür ist heute nicht mehr die Religion, sondern die Werbung, das Marketing und damit der professionalisierte Selbstbetrug. „Werbung, Marketing – das kann mir nicht passieren“, sagt der Fundi und macht dabei ein Gesicht wie Ralf Stegner, wenn der fröhlich ist. Nach Selbstbetrug muss man gar nicht mehr fragen, Watzlawick hätte gelacht.
Das war auch schon so, als er mit den Menschen diskutierte, die seinen Bestseller lasen, und die er unermüdlich darauf hinwies, dass sein Buch nicht so zu verstehen sei, dass sich jeder à la Pippi Langstrumpf die Welt, also die Wirklichkeit, so machen könne, wie sie ihm gefällt. Da hörten die Fundis weg. Als das Buch 1976 erschien, waren die Fundis schon auf ihrem „Langen Marsch“ durch die Institutionen unterwegs, ein Wandertag, der scheiterte, wenn man sich nicht eine ordentliche Portion Illusionen in den Rucksack packte.
Das war – strawberry fields, nothing is real – bei der Generation nun auch kein Problem, man konnte, die Zeiten waren wirtschaftlich nicht so schlecht, seine eigenen Ansprüche an das anpassen, was man für die Wirklichkeit hielt.
Watzlawick ging es in der Folge wie Marx, vieles richtig gedacht und gesagt, aber was hilft dir das, wenn so viele deiner Fans komplette Trottel sind? Auch diesbezüglich sollte sich niemand Illusionen machen, wie jeder Zauberlehrling weiß, der mal auf der Bühne stand und feststellte, wie leicht die Leute über den Tisch zu ziehen sind – weil sie genau das wollen. Deshalb heißt es ja auch: Man macht sich Illusionen.
3. Gute Zeiten, schlechte Zeiten
Wer für die Weltrevolution ist, aber sich selbst „durchs System nicht kaputt machen“ will, kann ja immer noch Lehrer werden und in den unterrichtsfreien Zeiten mit Gleichgesinnten bei einer Flasche Rotem darüber sprechen, wie es anders ginge, was aber leider gerade nicht geht.
Das sind die bekannten Dehnungsübungen der Fundis, die die Glaubwürdigkeit nicht nur der Politik zerstört haben. Wir wüssten, wie es geht, es geht aber gerade nicht. Es gibt kein richtiges Leben im falschen? Aber sicher, das geht. Aus der wirklich wahren Wirklichkeit wurde ein bewusst konsumierter Selbstbetrug, wir tun so, als ob wir was ändern wollen, und ihr tut so, als ob ihr das glaubt. Damit waren viele Realitäten möglich, je nachdem, welcher Sekte man angehörte, Blau, Rot, Gelb, Rosa, Lila, Türkis und Grün, versteht sich, mit den jeweiligen Untersekten und deren Sektionen.
Das ging im Wohlstandswunderland lange gut, weil niemand fragte. Sollten sie doch ihre Vorstellungen von Realität haben, sagten die, die sie ansatzweise kannten, was nützt es schon, wenn die Leute wissen, wie es wirklich ist? In den Unternehmen und Betrieben begann man so zu tun, als ob die eigenen Regeln und Interessen nichts weiter abbilden würden als Vielfalt und Unterschiedlichkeit, Diversity und Augenhöhe, was soll’s, darüber reden genügt ja.
Der Selbstbetrug, ans Machen und damit an die Realität der Veränderung nur zu denken, aber nicht zu handeln, verbreitete sich im Laufe der Zeit überall.
Es wurde nur gemeint, nicht gemacht. Das ist der Grund, weshalb heute diese Illusionen so leicht rückgängig gemacht werden können. Kaum jemand hat an sie geglaubt, an die Veränderung, man hat halt mitgemacht, war gut für die Karriere.
Wer Wirklichkeit konstruiert, denkt wie ein Werber, ein Marketingmensch, der behauptet, auf der Alm gäbe es lila Kühe, die die Milch für die leckere Schokolade fabrizieren. Die meisten Politiker m/w/d sind natürlich genau aus diesem Holz, sie reden den Leuten nach dem Mund, der wiederum das wiedergibt, was er für richtig hält, weil er es von anderen gehört hat – unter anderem von Politikern und Werbern oder Menschen, die sich für Journalisten halten, aber letztlich nur Marketingfuzzis für bestimmte Illusionen sind.
Den kulturellen und sozialen Tiefpunkt kann man auf LinkedIn nachvollziehen, ein „soziales“ Netzwerk, dass der Karriere, also der gewerbsmäßigen Anbiederung, dient. Erst machen sich die Leute Illusionen, dann verlieren sie ihre Würde, es ist immer das Gleiche. Sie sagen zum größten Unsinn „Das habe ich mir auch schon immer gedacht!“ oder, falls jemand behauptet, der Mond wäre lila, das sei ihnen auch schon aufgefallen.
Keine Illusion ist zu dumm, denn es geht ja nicht mehr darum, sich der Realität zu stellen – sondern es sich bequem zu machen. Das ist die Fundi-Kultur. Zu faul, um sich zu verändern, aber eifrig, wenn es ums Anbiedern geht, damit man faul bleiben kann.
Diese Leute haben weder Haltung noch Realitätssinn, denn beides würde sie beim Verzehr ihrer wohlerworbenen Rechte des Verdrängens von Wirklichkeit, beim Konsum der eigenen Selbstgerechtigkeit nur stören. Zweifel führen zu Verdauungsproblemen. Sie liegen im Magen.
4. Der „Lange Marsch“ vorbei an der Realität
All das geschieht nur mehr am Rande noch bewusst, wenn überhaupt, was dieses Verhalten übrigens kein bisschen entschuldigt. Die Leute haben sich an die Lügen gewöhnt.
In einer Konsumgesellschaft, die lange genug existiert, halten die Leute irgendwann das, was sie fälschlicherweise für die Wirklichkeit halten, für normal.
Alles ist geregelt, hat seine festen Abläufe, und die werden eingehalten, weil man die Routinen, die das eigene Leben bestimmen, für die Sendboten der Wirklichkeit hält. Der Standard, die Norm, die vorausberechenbare, überraschungsfreie Reaktion, wenn man etwas tut oder lässt, all diese Hilfsmittel, die wir im Laufe der kulturellen Entwicklung geschaffen haben, diese Werkzeuge also, sie werden nicht mehr als solche wahrgenommen, sondern als Wirklichkeit selbst.
taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°34: Zahlen des Grauens
Die weltweiten Ausgaben für Rüstung betragen 2700 Milliarden Dollar im Jahr, ein 270stel davon wird weltweit gegen Hunger investiert. Wir präsentieren Zahlen des Grauens und plädieren gerade deshalb für Orientierung an Fakten statt an Talkshow-Aufregern.
Mit: Matthias Brandt, Dana Giesecke, Maja Göpel, Wolf Lotter, Armin Nassehi, Sönke Neitzel, Katja Salamo und Harald Welzer.
Es ist wie in Saint-Exupérys Kleinem Prinzen, in der Szene, wo der Titelheld den König ohne Untertanen trifft und ihn bittet, die Sonne untergehen zu lassen. Der König antwortet drauf: „Du sollst deinen Sonnenuntergang haben. Ich werde ihn gebieten. Aber ich werde in meiner Gelehrsamkeit als Herrscher warten, bis die Voraussetzungen hierfür günstig sind.“ Wann wäre denn das, fragt der kleine Prinz, und der König ohne Untertanen schaut in seinem Kalender nach: „Hem, hem“, antwortet der König, „das wird sein … etwa … es wird heute Abend etwa zwanzig vor acht sein! Dann kannst du sehen, wie mir gehorcht wird!“
Derlei kennt man auch vom Management, von Leuten, die sich dafür loben, dass passiert, was ohne sie viel besser ginge. Sie hielten sich für Unternehmer, aber sie waren nur Verwaltungsangestellte, und als die guten Zeiten vorbei und auf den Weltmärkten bessere und preiswertere Produkte zu haben waren, sah man, wie wenig sie vermochten.
Eine Erbengemeinschaft, die sich für originell und allmächtig hält, lächerlich durch und durch.
Das ist mit dem „Langen Marsch“ durch die Institutionen an allen Realitäten vorbei auch nicht anders. Was für Entwicklung und Gestaltung gehalten wird, ist nichts weiter als Mitlaufen. An der Wirklichkeit ändert sich nichts, nur an unserer Wahrnehmung. Die vermeintliche stille Revolution ist nichts als Gewöhnung an die eigenen Illusionen.
Hier kommt einem der alte Richard Feynman und seine Beobachtung vom „Cargo Cult“ in den Sinn. Der Physiker erzählte von den Bewohnern abgelegener pazifischer Inseln, auf denen die USA im Zweiten Weltkrieg im Kampf gegen Japan Flugbasen errichteten.
Das ging so: Man kam mit dem Boot an, lud Maschinen aus, planierte eine Landebahn und baute eine ganze Menge Gebäude für die Güter und Lebensmittel, die man halt so brauchte – Schokolade, Getränke, Brot, Fleischkonserven und so weiter. Die Natives wurden, als Zeichen des guten Willens, von den Amerikanern großzügig mitversorgt.
Nach tausenden Jahren, in denen man jeden Tag fürs Überleben schuften musste – fischen, ernten, jagen, sammeln – gab es plötzlich alles im Überfluss.
Das war die neue Realität, die neue materielle Normalität, und wie unsere Vorfahren auch, gewöhnten sich die Insulaner ruckzuck daran.
Als die Dakotas der Amerikaner landeten, wurden die Positionslichter der Rollbahn angemacht, und die Marshaller, die Einweiser, hatten leuchtende Signale in der Hand, mit der die Maschinen auf ihre Parkposition eingewiesen wurden.
Dann aber war der Krieg gewonnen, und Stück für Stück bauten die Amerikaner ihre Zwischenbasen im Pazifik ab. Keine Flugzeuge landeten mehr. Nichts kam mehr vom Himmel. Nun begannen die Verbraucher, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
Die weißen Götter, so glaubten sie ja, hatten die Flugmaschinen mit Licht und eingängigen Signalen herbeigelockt. Aus der Routine der Landungen wurde ein Cult, eine Religion, und der Gottesdienst bestand daraus, dass die Insulaner die alten Landebahnen beleuchteten und sich mit Lampen und Fackeln – die Marshaller imitierend – auf die Piste stellten.
Dass kein Flugzeug kam, änderte den Glauben an die Richtigkeit des Tuns nicht. Die Routinen wurden eingehalten, und dass nichts vom Himmel kam, konnte nur daran liegen, dass man Fehler machte. Niemand fragte sich, ob nicht der ganze Cult Quatsch wäre, sondern es konnte nur an nicht optimierten Routinen liegen.
Auch hier ist nichts komisch, was wir nicht selbst von uns kennen. Die Transformation von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft verläuft genauso.
Nicht die Normalität von gestern wird bezweifelt, sondern behauptet: Wir strengen uns nicht gut genug an. Wir müssen das jetzt optimieren. Da steht es dann, das Management aus Wirtschaft und Politik, mit all seinen Mitläufern entlang der Piste mit Laternen, und verzweifelt warten sie auf ein Wunder. Das Wunder will nicht.
5. Glaube
Anything goes – natürlich nicht.
Die Konstruktion von Wirklichkeit funktioniert eben nur so lange, als die Realität sich nicht für einen interessiert, weil sie Besseres zu tun hat. Möglicherweise ist sie gerade in Vietnam unterwegs, während im Westen die Leute ihr erstes Auto kaufen und im Osten immer noch hoffen, dass irgendwann der Eiserne Vorhang aufgeht.
Die Realität hat zu tun, Herrschaften, sie muss überall gleichzeitig sein, das ist sogar so einer Wirklichkeit zu viel. „Ich hab keine Zeit, echt viel zu tun gerade“, sagt sie, „mach dir mal ein paar Illusionen, ich komm später vorbei.“
Das ist ja prima, na dann machen wir mal: Schuldenmachen, Konsum, kurzfristiges Denken, Ignoranz gegenüber Umwelt und Klima und vor allen Dingen Menschen, denen es schlechter geht, im Krieg, im Alter, weil sie nicht dazugehören oder einfach zu wenig Geld haben, um sich auch so schöne Illusionen leisten zu können wie der Mittelstand.
Illusionen zeigen mit dem Finger auf den, der warnt, sie machen Zweifler zu Verrätern und zu Realos für kaltherzige Schufte. Die Illusionen sind immer jung, frisch und begehrenswert, sie verkleiden sich als Utopien und Visionen, aber tatsächlich sind sie, was sie sind: Hirngespinste, das, was wir hören und sehen wollen, nicht was da ist.
Die interessantesten Gesellschaftsanalysen kommen von Leuten, die man ins Ressort Science-Fiction steckt, Betonung auf das Fiktive, Unwirkliche also. Auch das ist eine Verkennung der Realität. George Orwell war ein echter Realist, nur mal zum Beispiel, und der amerikanische Autor Philip K. Dick ebenfalls.
Von ihm stammt der Hinweis auf das Ablaufdatum aller Illusionen: „Die Realität ist das, was nicht weggeht, wenn du nicht daran glaubst.“
Jetzt hat sie Zeit, sie kehrt zurück in den Westen und in die Welt des Cargo-Cults, wo immer verzweifelter gefuchtelt wird auf den Landepisten der Einbildung. Jetzt ist es Zeit für die Abrechnung.
6. Die Abrechnung
Man muss ja nicht gleich ans Schlimmste denken, Apokalypse und so, wenn man Abrechnung hört. Denken wir lieber an eine Bestandsaufnahme: Die Realität kommt und sagt: „Naaa, was haben wir denn hier ausgegeben und dort, und warum fehlt hier und dort was?“
Politik beispielsweise, die, wenn sie am Wahltag verliert, sich in den Tunnel der Selbstgefälligkeit zurückzieht und keine Fehleranalyse betreibt, wird immer wieder scheitern.
In „normalen“ Zeiten, also den Abschnitten der Illusion, ist das nicht schlimm. Man kann sich als Mitglied einer randständigen Partei einreden, alle anderen wären blöd und hätten keine Ahnung, solange es ausreichend Leute gibt, die das Gleiche denken, weil ihr Job, ihr Einkommen, ihre persönliche Sicherheit nicht bedroht ist.
Die Sache sieht komplett anders aus, wenn die materielle Basis verrutscht und verschwindet, wie bei immer mehr Leuten heute, wenn der „Ton“ rauer wird, jene Vorhut der Realität also, die keine Gefangenen mehr macht. Entweder oder, heißt es da.
Wer rumfuchtelt, wird erschossen – wenn nicht von denen, die ihre Ruhe wollen, weil es sie ja nicht betrifft, dann von den vielen, die meinen, sie müssten sich nur ihrer Gegner entledigen, um Probleme zu lösen.
Dabei ist das Gegenteil richtig. Um Probleme zu lösen, Umwelt, Wirtschaft, Globalisierung etc. pp., muss man mit der Realität gemeinsam jene Bestandsaufnahme durchführen, ohne die es kein Weiterkommen gibt. Realistisch ist also heute nicht die Beschwörung der Demokratie, und es ist auch nicht hilfreich, irgendwelche Auf-Augenhöhe-Lyrik zu verbreiten, sondern das gute alte „Uns und unsere Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen“, wie Herr Marx richtig erkannte. Realitätssinn ist das.
Schauen wir unsere Beziehungen nüchtern an.
Das bedeutet, dass das Wichtigste zuerst getan werden muss. Wer vor lauter Vielfalt keine Entscheidungen mehr trifft, keine Prioritätenliste erstellt, der hat am Ende gar nichts mehr. Im politischen Geschäft nennt man das Deal, Kompromiss, Konsens.
Genau das also, was seit der letzten Wahl recht unbeliebt geworden ist, weil man glaubt, dass das Suchen nach Gemeinsamkeiten – liberale - Demokraten aus dem grünen Lager gehen auf liberale Demokraten bei schwarz, rot, gelb zu – gescheitert wäre. Mehr irren kann man nicht.
Gescheitert ist ja die Idee der Kompromisslosigkeit, die die Koalition zerlegte. Gescheitert ist auch die – übrigens konsumistische – Wohlstandsillusion, dass das Materielle nicht so wichtig ist. Die war nie etwas anderes als das Ding von Leuten, die sich Illusionen leisten können. It’s the economy, stupid, dass ist zeitlos, weil es die Realität ist.
Ökonomie heißt hier nicht Wirtschaft der Wirtschaft wegen, sondern die Voraussetzung dafür, dass wir Entscheidungen treffen können. Das haben wir nicht drauf. Die einen konsumieren Illusionen, die anderen Flugreisen.
Es geht aber darum, den Realitätssinn zu entwickeln, also jene Eigenschaft, bei der wir – ohne Not und Druck – eine bewusste Beziehung mit der Realität eingehen, und das ist eben nicht allein unsere Welt, unsere Institutionen, unsere Partei.
7. Entscheiden
Dieser Realitätssinn heißt Entscheiden, dazu muss man aber erst einmal etwas wollen und anderes nicht. Das ist aus dem Zeitgeist gefallen, weil wir über Jahrzehnte hindurch an die Formel „You can have your cake and eat it too“ geglaubt haben.
Nüchtern betrachtet ist der Kuchen weg, wenn man ihn verputzt, er wächst nicht von selbst nach, wenn man nicht gelernt hat, ihn zu backen. Dazu muss man sich wieder mit Leuten einlassen, die das gelernt haben. Im wirklichen Leben sucht man also Kooperationen zwischen Menschen, die nicht das Gleiche denken, sagen, machen. Man sucht sich klugerweise Menschen, die das, was man kann, ergänzen.
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Das klingt banal, aber Parteilogik und die Logik der Gemeinschaften heute ist anders. Linke reden mit Linken, Rechte mit Rechten, und in der Mitte redet man mit niemanden, weil einem längst alle auf die Nerven gehen.
Realismus, nicht nur politischer Realitätssinn also, braucht die Fähigkeit, Kompromisse einzugehen und Konsens zu suchen. Damit man beides hinkriegt, braucht es erst einmal Kenntnis von Gemeinsamkeiten.
Die Konsum- und Aufmerksamkeitsgesellschaft liebt aber das farbenfrohe -Detail, nicht die schnöden Grundlagen, zu denen sichere -Sozial- und Rechtssysteme gehören, materielle Verlässlichkeit und die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Wer laufen will, muss erst einmal stehen lernen, und deshalb fängt hier alles an.
Die Politik der Nachkriegszeit fängt deshalb und nicht zufällig mit der Beschwörung materieller Grundlagen an, das Wirtschaftswunder sorgt für das Machbare auch in der Demokratie. Es war ein Kompromiss, der eine „nivellierte Mitte“ schuf, wie der Soziologe Helmut Schelsky es nannte.
Gemessen an den Fluchten von heute war diese materielle Wohlstandswelt ziemlich realo, eben weil sie den Schritt ging, die Vielfalt mit dem Gemeinsamen zu beginnen – und nicht umgekehrt aus den extrem abgelegenen Ecken heraus unwillig an Anschlussfähigkeit zu basteln, wie das heute geschieht.
Ludwig Erhard hatte recht, ob es euch passt oder nicht. Wohlstand für alle. Kann sein, dass sich der Rest nicht wie von selbst ergibt, und ganz bestimmt machen sich die Leute auch weiterhin ihre Illusionen.
Die Sache ist nur die: Wahrheit ist etwas Schönes, Realitätssinn etwas Erhabenes, aber wo die Leute nichts mehr haben, werden sie bösartig, weil sie um ihre Existenz fürchten, und dann bringen sie sich gegenseitig um.
Das Ergebnis von Armut ist Elend, Mord und Totschlag. Das ist die Realität. Und sie geht nicht weg, wenn du nicht dran glaubst, nur wenn du was gegen sie unternimmst, nüchtern, wenn’s geht.
Für diesen „Langen Marsch“ in die Realität sollte man sich warm anziehen. Viel Glück auf allen Wegen.
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