Debatte: Waches Misstrauen
Die linken Aktivisten haben ihr Verhältnis zur Gewalt seit den 70ern selbstkritisch überprüft, Politik und Geheimdienste dagegen ihre Rolle nie reflektiert. Zeit wirds.
E in kiloschwerer Band, vollgestopft mit den Ergebnissen des Forscherfleißes - das wars, was im Frühjahr 2007, der 30. Wiederkehr des verhängnisvollen Jahres 1977, von der RAF übrig geblieben schien. Dann kam anlässlich des Gnadengesuchs von Christian Klar die Kampagne der Rechtskonservativen, die die Reue des Täters zur Bedingung eines Gnadenerweises machte.
Michael Buback, Sohn des ermordeten Generalbundesanwalts, wollte um des inneren Friedens willen wissen, wer die Schüsse auf seinen Vater abgefeuert hatte. Ihm wurde teilweise Auskunft zuteil. Jetzt taucht die ganze mörderische Szenerie jener Jahre wieder auf. Von Distanz, von "Historisierung" ist gegenwärtig nichts zu spüren. Dafür umsomehr von Geschichtspolitik in tagesaktueller Absicht.
Denn das Kartell der Liebhaber von Law and Order mit Wolfgang Schäuble als Einheizer wollte das Gedenkjahr 2007 nutzen, um einen Bogen von der links-terroristischen Bedrohung des Jahres 1977 zur islamistischen Terrorgefahr unserer Tage zu konstruieren. Damals wie heute gelte es, Vorsorge zum Schutz des Gemeinwesens zu treffen. Damals wie heute müsse den selbst ernannten Grundrechtsschützern entgegengetreten werden, die überall den Abbau demokratischer Rechte wittern. Hätten denn die 30 Jahre seit dem Deutschen Herbst nicht erwiesen, dass die Furcht vor dem Überwachungsstaat grundlos war? Und wird es sich mit den von Schäuble projektierten Gesetzesvorhaben zukünftig nicht genauso verhalten?
In den letzten Tagen ist allerdings die so schwungvoll begonnene Offensive der Rechtskonservativen ins Stocken geraten. Denn seit den Informationen des Ex-Terroristen Peter-Jürgen Boock steht der "Verfassungsschutz" genannte deutsche Inlandsgeheimdienst unter dem Verdacht, seinerzeit der Staatsanwaltschaft und dem Gericht seine Erkenntnisse über den möglicherweise gänzlich anderen Verlauf der Mordtat an Buback vorenthalten zu haben. Unabhängig von der Frage, ob der Geheimdienst rechtlich verpflichtet war, seine Informationen weiterzugeben - an einer Debatte über die politische Wertung dieser damaligen Praxis werden die heutigen Verteidiger der Schattenkrieger nicht vorbeikommen. Womit die Auseinandersetzung über eine demokratische Kontrolle der Geheimdienste mit den Ereignissen des Jahres 1977 verbunden wird.
Wider Erwarten kommt damit die "andere Seite" (Wolfgang Kraushaar) des Deutschen Herbstes wieder ins Blickfeld, also der verfolgende und strafende Staat. Schnee von gestern? Viele der in den 70er-Jahren beschlossenen Gesetze von zweifelhafter verfassungsrechtlicher Dignität sind weiterhin in Kraft. Nach wie vor wird das Recht der freien Verteidigung eingeschränkt - durch das Verbot der Mehrfachverteidigung. Das berüchtigte Kontaktsperregesetz wurde zwar nach 1977 nicht mehr angewandt, aber auch nie aufgehoben. Der damals eingefügte Straftatbestand über die Bildung terroristischer Vereinigungen mit seinen umbestimmten Rechtsbegriffen wurde später noch weiter ausgedehnt. Mit einem Wort: Eine Generalrevision aller antiterroristischen Gesetze und Maßnahmen der 70er-Jahre wurde stets vereitelt.
Wichtiger als diese dubiose Rechtskontinuität ist aber, dass es nie eine selbstkritische Diskussion über den RAF-Komplex seitens der Parteien, der Verfolgungsorgane und derjenigen Medien gegeben hat, die regierungsfomm funktionierten.
Gegenstand einer solchen kritischen Reflexion müsste in erster Linie die Praxis der verantwortlichen Politiker, Beamten und Medienleute jener Jahre sein, jede Kritik an der Terrorismusbekämpfung als indirekte Unterstützung des RAF-Terrors zu diffamieren. Das Stigma lautete: Sympathisant. Sympathisant zu werden war ganz leicht. Für Bernhard Vogel (CDU), den stets Gutherzigen, reichte es schon, wenn man "Baader-Meinhof-Gruppe" sagte und nicht fahndungskorrekt "Baader-Meinhof-Bande". Sympathisant war das universell einsetzbare "Beziehungs- und Verknüpfungsvehikel", so später der kritische Kriminologe Fritz Sack, "das so geräumig war, dass es Platz bot für die unterschiedlichsten und disparatesten Vorgänge, Merkmale und Umstände, die sich mit ihm verknüpfen und diskreditieren ließen".
Trotz entgegengesetzter Beteuerungen sehen sich heute die Muslime in Deutschland einem analogen Sympathisantenverdacht ausgesetzt. Ihre Vertreter versichern der Öffentlichkeit stets aufs Neue, der islamistische Terror sei verabscheuungswürdig. Aber der Appetit der Behörden nach Distanzierung wird, wie in den 70er-Jahren, nie gestillt werden können.
Auf jedem nicht systemkonformen Linken, mochte er gegenüber er RAF noch so kritisch eingestellt sein, lastete damals ein jederzeit aktivierbarer Verdacht. Wie schnell die Verfolgungsorgane mit Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmen und Festnahmen bei der Hand waren, davon könnten Tausende der ehemals radikalen Linken ein Liedchen singen. Sie unterließen dies meist, nicht weil sie die Figur des ewig bramarbasierenden Veteranen fürchteten. Sondern weil sie - zu Recht - selbst unter Rechtfertigungsdruck standen. Man kann den unterschiedlichen Gruppen der radikalen Linken von damals so manches anlasten. Nicht aber, dass sich die Aktivisten später einer selbstkritischen Überprüfung ihres Verhaltens zur politischen Gewaltanwendung entzogen hätten - zuletzt anlässlich der Debatte über Joschka Fischers Taten als Mitglied der Frankfurter "Putztruppe". Das gerade ist es, was sie, die Linken, von der stets affirmativen Haltung der Machtelite von damals unterscheidet.
Speziell für Wolfgang Schäuble wäre es an der Zeit, sich in Erinnerung zu rufen, wie 1977 führende seiner Parteifreunde mit dem Rechtsstaat umgesprungen sind. Nur zwei Beispiele aus dem damaligen Forderungskatalog: Sicherungsverwahrung für RAF-Terroristen bereits nach der ersten Verurteilung (Alfred Dregger, CDU). Todesstrafe für die wegen Mordes verurteilten (Richard Stücklen, CSU). Sind das Kundgebungen eines längst entschwundenen autoritär-populistischen Politiker-Typus, Wiederholungsgefahr ausgeschlossen?
Es ist gerade die Zwangsvorstellung von genereller Kontrolle, die Allgegenwart des Verdachts, die Wolfgang Schäubles heutige Projekte zur "Inneren Sicherheit" mit den polizeilichen Visionen der 70er-Jahre vom "Sonnenstaat" verbindet, der alles und alle durchleuchtet. Natürlich hat Schäuble Recht, wenn er sagt, die Unschuldsvermutung gilt nicht für die polizeiliche Gefahrenabwehr. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass polizeiliche Ermittlungen sich schrankenlos ausdehnen können. Erst recht nicht, dass die Arbeit von Polizei und Geheimdiensten im Zeichen umfassender Kontrolle der Bevölkerung zusehends verschmilzt.
Bedenkt man diese "andere Seite", diese Verbindungslinien zwischen den 70er-Jahren und dem heutigen "Kampf gegen den Terror", so kann die Lehre nur lauten: Stets waches Misstrauen!
CHRISTIAN SEMLER
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