Debatte: Eine Sache Europas
Europäische Staaten wie Großbritannien, Deutschland oder Österreich werden ihrer historischen Verantwortung für die Konflikte in den Palästinensergebieten nicht gerecht.
D er Stolz, den die Hamasführung nach ihrer Machtübernahme im Gaza-Streifen demonstriert, ist unbegreiflich. Das ist kein Sieg, sondern eine Bankrotterklärung der politischen Führung von Hamas und Fatah. Was sich mit dem Tod von Jassir Arafat allmählich abzeichnete, ist nun endgültig: Die PLO ist im letzten Kapitel ihrer Geschichte angelangt.
Traurig und zugleich beschämend ist, dass jetzt sogar gezielte innerpalästinensische Tötungen vollzogen werden. Das galt bisher als Tabu. Europa trägt eine historische Verantwortung für das Schicksal der Palästinenser. Sich verstecken ist die schlechteste Lösung. Europa muss innerhalb der UNO eine tragende Funktion übernehmen und aus der Statistenrolle herauswachsen, die es bisher im Roadmap-Quartett innehatte.
Die Nachrichten aus den Palästinensergebieten überschlagen sich, doch sind sie Ergebnis einer langfristigen Entwicklung. Vor wenigen Tagen feierte Israel den 40. Jahrestag seines Sieges über seine arabischen Nachbarstaaten Ägypten, Syrien, Jordanien sowie die Palästinenser im Sechstagekrieg. Für die Palästinenser ist der 5. Juni 1967 hingegen al-Naksa, ein Tag der Trauer. Wörtlich übersetzt bedeutet al-Naksa in etwa "der Rückschlag, der kaum verkraftet werden kann". Der Ausdruck spiegelt wider, dass es sich für die Araber nicht nur um eine militärische Niederlage handelte, sondern um ein Ereignis mit schwerwiegenden Folgen für die kommenden Generationen.
Vor dem Sechstagekrieg hatten sich die arabischen Führer in unsinniger "Siegesrhetorik" geübt und ihre Völker mit Propaganda, was die Stärke ihrer Armeen betraf, irregeführt. Doch dann schuf die israelische Armee vollendete Tatsachen: Tatsachen, die einen möglichen Frieden oder die Durchsetzung internationalen Rechts in den nächsten Jahrzehnten in weite Ferne rücken ließen.
Tarafa Baghajati, 1961 in Damaskus geboren, wohnt seit 1986 in Österreich. Er ist Mitgründer der Initiative muslimischer Österreicherinnen und Vizepräsident von Enar, dem European Network against Racism
Die Niederlage von 1967 war der zweite Rückschlag für die Palästinenser nach der "Katastrophe" von 1946, als die die israelische Staatsgründung im arabischen Gedächtnis bezeichnet wird. Deren Grundlagen hatte der britische Außenminister Lord Balfour am 2. November 1917 gelegt, indem er in einer Deklaration "die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk mit Wohlwollen" betrachtete. Realität wurde dieser Teil des Papiers im November 1947 mit dem Teilungsplan der UNO, der dem neuen Staat Israel über die Hälfte des Gebiets des historischen Palästina zusprach. In der Folge wurden ca. 800.000 Palästinenser in die umliegenden Nachbarländer vertrieben.
Großbritannien trägt aufgrund seiner kolonialen Vergangenheit bis heute eine politische Verantwortung gegenüber den Palästinensern. Das wird selten erwähnt. Doch wie konnte sich eine "Protektoratsmacht" so von ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen lossagen? Auch Deutschland und Österreich tragen Verantwortung. Ohne den Schock über den Völkermord der Nazis am jüdischen Volk wäre das offensichtliche Unrecht, das die Vertreibung der Palästinenser darstellte, von der Weltgemeinschaft nicht so widerspruchslos geduldet worden.
All dies spricht dafür, dass sich Europa stärker für eine gerechte Lösung im Nahen Osten einsetzen sollte. Dabei geht es nicht um eine "Wiedergutmachung" für die Palästinenser, sondern darum, internationales Recht durchzusetzen. Dazu gehören ein unabhängiger palästinensischer Staat mit Ostjerusalem als Hauptstadt sowie die Räumung aller israelischen Siedlungen, die nach dem Sechstagekrieg von 1967 völkerrechtswidrig entstanden sind - aber auch eine offene Debatte über ein Rückkehrrecht der Palästinenser, das ihnen nach der UN-Resolution Nr. 194 zusteht, aber von Israel bislang nicht einmal durch eine symbolische Geste Anerkennung gefunden hat.
Die Verantwortung Europas bezieht sich nicht nur auf die Staatsgründung Israels von 1948, sondern ist bis heute aktuell. England und Frankreich waren etwa im Krieg gegen Ägypten, als es um die Verstaatlichung des Suezkanals ging, mit Israel verbündet. Mehrere UN-Resolutionen, die Israels Vorgehen in den besetzten Gebieten und die Annexion Jerusalems verurteilen, wurden nach 1967 mit Stimmen der Europäer beschlossen. Doch um die Durchsetzung dieser Resolutionen hat sich Europa keinen Deut geschert. Gemessen an der peniblen Genauigkeit, mit der heute die Länder der "Achse des Bösen" behandelt werden, scheint hier die Rede vom doppelten Maßstab angebracht. Auch der Boykott der palästinensischen Regierung nach dem Wahlsieg der Hamas hat dazu beigetragen, die europäische Haltung unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Als der rechtsextreme Avigdor Liberman, der in Israel selbst als gefährlicher Rassist gilt, dort zum "Minister für strategische Bedrohung" und stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannt wurde, nahm die EU dies stillschweigend zur Kenntnis; der EU-Vertreter Javier Solana traf sich sogar mit ihm. Die Hamas hingegen wird geschnitten, weil sie das "Existenzrecht Israels" nicht anerkenne. Von Israelis und Arabern muss man verlangen, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. In israelischen Schulbüchern werden die Schattenseiten der Geschichte und Gegenwart des Staates Israel ausgeblendet. Die arabischen Staaten wiederum verschweigen, dass den jüdischen Minderheiten in vielen arabischen Ländern krasses Unrecht widerfahren ist. Nach der israelischen Staatsgründung erfuhren Bürger Repressalien, oft von staatlicher Seite - in Marokko, in Syrien, im Jemen und am schlimmsten im Irak. Synagogen wurden geschlossen, Juden wurden quasi der "Sippenhaftung" unterworfen; ein normales Leben wurde ihnen fast unmöglich. Viele arabische Juden zogen die Konsequenz und flohen, oft nach Israel.
Seit geraumer Zeit versucht die israelische Regierung, die Lage in den besetzten Gebieten zum rein äußeren Problem zu erklären und die Härten seines Besatzungsregimes als vorübergehende Maßnahmen hinzustellen. Doch nach dem Scheitern des Friedensprozesses von Oslo und auch nach dem Abzug der israelischen Armee aus dem Gaza-Streifen kann von einer Autonomie der palästinensischen Gebiete keine Rede sein. Noch immer herrscht Israel über die Palästinenser.
Die jüngsten Kämpfe in den Flüchtlingslagern im Libanon und die Eskalation im Gaza-Streifen führen das Leiden der Palästinenser noch einmal deutlich vor aller Augen. Im Libanon hat die vielfältige Diskriminierung der Palästinenser, die von vielen Berufen ausgeschlossen sind und nicht einmal Grundbesitz erwerben dürfen, dazu geführt, dass sich die Flüchtlingslager zu Brutstätten militanter Extremisten wie der Fatah al-Islam entwickeln konnten. Wenn sich dieses Szenario jetzt im Gaza-Streifen wiederholt, wird Israel es eines Tages bereuen, auf die Hamas als stabilisierende Kraft verzichtet zu haben.
Zu einer ehrlichen Lösung gehört, dass jede Seite selbstkritisch ihre Fehler betrachtet. Europa darf sich dabei vor der eigenen Verantwortung nicht drücken. TARAFA BAGHAJATI
Tarafa Baghajati, 1961 in Damaskus geboren, wohnt seit 1986 in Österreich. Er ist Mitgründer der Initiative muslimischen ÖsterreicherInnen und Vizepräsident von Enar, dem European Network against Racism.
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