Debatte über Frauen & Ehre: Schminken, Fußball spielen
Im Club Südblock wurde in Erinnerung an Hatun Sürücü darüber diskutiert, was muslimische Mädchen in Berlin alles dürfen sollen bei der Suche nach ihrer Identität.
Montagabend, eine Podiumsdiskussion im Südblock, der Kneipe am Kottbusser Tor. Berlins Multikulti-Fußballverein Türkiyemspor hat geladen. Das Thema: „Ich darf nicht – Berliner Mädchen auf der Suche nach der eigenen Identität“. Dahinter steht also die Frage, wie Berliner Mädchen aus strenggläubigen Familien ein selbstbestimmtes Leben führen können. Fußball spielen, sich schminken, studieren, mit deutschen Männern schlafen. Wie können sie eine eigene Identität aufbauen, ohne mit ihren Familien brechen zu müssen?
Anlass der Veranstaltung ist die Gedenkwoche an Hatun Sürücü, die 2005 von ihrem Bruder erschossen wurde. Weil ihm der „Lebenswandel“ seiner Schwester missfiel.
Geschminkt, figurbetont
Am 7. Februar 2005 wurde die 23-jährige Hatun Sürücü in Tempelhof erschossen. Sie hatte sich von ihrem Mann getrennt und lebte mit ihrem Sohn allein. Die Familie wollte durch die Tat ihre "Ehre" wiederherstellen: Ein Bruder wurde zu mehr als neun Jahren Haft verurteilt, zwei weitere aus Mangel an Beweisen freigesprochen.
Anlässlich des achten Todestags von Hatun Sürücu hat die Beratungsstelle der Frauenrechtsorganisation Terre des femmes mitgeteilt, dass im vergangenen Jahr mehr Fälle sogenannter Gewalt im Namen der Ehre verzeichnet wurden. Insgesamt wandten sich 313 betroffene Frauen an die Experten in Berlin, 2011 waren es 262 Fälle. 2012 suchten 130 Frauen Unterstützung wegen Gewalt, 118 wegen drohender oder vollzogener Zwangsheirat. In den restlichen Fällen ging es um Verschleppung ins Ausland oder um die Jungfräulichkeit der Frau.
Zum Gedenken an Hatun Sürücu gibt es am Donnerstag um 15 Uhr ein Treffen an der Ecke Oberlandstraße/Oberlandgarten. Terre-des-femmes-Bundesgeschäftsführerin Christa Stolle sprach sich auch für die Umbenennung einer Straße nach Hatun Sürücu aus, um der jungen Frau und anderer Opfer von sogenannten Ehrenmorden zu gedenken. (epd, taz)
Auf einer Tribüne, gleich neben den genderfreien Toiletten, sitzt das Mädchenteam von Türkiyemspor. Alles Mädchen um die sechzehn Jahre, Kreuzbergerinnen mit türkischer Herkunft. Geschminkt, figurbetont gekleidet. Nur ein Mädchen fällt mit ihrem schwarzen Kopftuch aus dem Bild. Das Team und ein ansonsten bunt gemischtes Publikum von 60 Leuten schauen zuerst einen Dokumentarfilm zur Tragödie um Hatun Sürücü. Der Film zeigt eine Familie, die den Tod der Tochter nicht wirklich bereut. Harter Tobak. Zehn Minuten Pause zum Verarbeiten, dann beginnt die Diskussion.
„Wir brauchen Vätervereine für jeden Stadtbezirk“, fordert Kazim Erdogan.“ Erdogan betreut sechs inhaftierte Berliner „Ehrenmörder“ psychologisch. Er hat den Verein „Aufbruch Neukölln“ gegründet und versucht das Konzept der Vätervereine populär zu machen. In den Gruppen lernen türkischstämmige Väter mit dem Freiheitsbedürfnis ihrer Töchter umzugehen. Ohne, dass es zu Zerwürfnissen, oder schlimmstenfalls zu Gewalt kommt. Erdogan rechnet vor, dass für nur 48.000 Euro im Jahr, jeder Stadtbezirk Berlins eine eigene Vätergruppe haben könnte. Die Bereitschaft bei den Männern sei vorhanden, und seine Treffen in Neukölln platzten aus allen Nähten.
Klare Grenzen aufzeigen
Matthias Deiß, Journalist und Autor des Films über die Familie Sürücü, schaltet sich ein. Solche präventiven Projekte seien zwar wichtig, aber ohne richtige Politik wirkungslos. „Die Sürücüs haben genau gewusst, dass der Mord moralisch falsch ist. Dennoch haben sie sich entschlossen Hatun zu töten. Solchen Leuten muss der Staat klare Grenzen aufzeigen.“
„Vätergruppen okay, Staat okay, aber in erster Linie müssen sich die Frauen doch selbst befreien wollen! Die Töchter müssen ihre Mütter fragen: Mama, warum machst du einen auf Opfer?“ Das ist die Position von Schauspielerin Idil Baydar. Sie habe als heranwachsende Frau irgendwann gegen die Bevormundung in ihrem Umfeld rebelliert. Und die Mädchen müssten aufhören so zu tun, als ob es ihnen gefällt, in Unterdrückung zu leben. Aufhören, damit zu kokettieren, dass sie anders sind als die deutsche Gesellschaft, die sie umgibt und oft genug ausgrenzt. „Schwachsinn“, knurrt das Mädchen im schwarzen Kopftuch.
Danach schießt das Gespräch in alle möglichen Richtungen. Deutschsprachige Imame, Behördenversagen, Integrationswille. Alles kommt zur Sprache und alle sind sich auf diffuse Weise einig, dass etwas geschehen müsse. Nur über die Suche der muslimischen Mädchen nach Identität spricht keiner mehr. Vielleicht wäre man eher beim Thema geblieben, wenn auch Gesprächspartner eingeladen worden wären, die eine andere Meinung haben. Die nicht wollen, dass ihre Töchter Fußball spielen und selbst über ihre Zukunft entscheiden.
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