Debatte Sprachlosigkeit mit Russland: Einseitige Verurteilung
Russland fühlt sich vom Westen hintergangen und formuliert seine Außenpolitik neu. Europa muss jetzt Schadensbegrenzung betreiben und Moskaus Belange ernst nehmen.
W ie zu erwarten, waren die Gespräche von Nicolas Sarkozy und José Manuel Barroso, die im Namen der EU zum russischen Präsidenten Medwedjew nach Moskau gereist waren, von wenig Erfolg gekrönt. Denn Politik und Öffentlichkeit in Deutschland stehen in diesem Konflikt überwiegend aufseiten Georgiens und sehen Russland auf der Anklagebank. Moskau wird zur Last gelegt, zwei Grundprinzipien des Völkerrechts verletzt zu haben, die das Gewaltverbot und die territoriale Integrität von Staaten betreffen. Wie steht es damit?
Was das Gewaltverbot betrifft, so steht außer Frage, dass Moskau in Georgien jenseits seiner eigenen Landesgrenze zu Waffengewalt gegriffen hat - das erste Mal übrigens seit dem Rückzug der Sowjetunion aus Afghanistan. Nur: Wie oft haben westliche Staaten seitdem in anderen Staaten militärisch interveniert, legal oder illegal?
Außerdem beruht die Anwesenheit russischer Truppen in den abtrünnigen Provinzen Südossetien und Abchasien auf den Waffenstillstandsabkommen von 1992 und 1994, die auch von Georgien unterschrieben worden waren. Die Aufgabe dieses Kontingents lautete, die vereinbarte Waffenruhe zu gewährleisten. Am 8. August waren georgische Streitkräfte in Südossetien eingedrungen und hatten die Hauptstadt Zchinwali erobert, russische Truppen schlugen sie zurück. Wie hätte die Nato reagiert, wären serbische Soldaten im Kosovo eingefallen, um sich wieder zum Herrn über Prishtina aufzuschwingen?
Der zweite Vorwurf an Moskau lautet, die einseitige Anerkennung der Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens verletze Georgiens Souveränität und territoriale Integrität. Der Vorwurf trifft zweifellos zu. Aber nur einem kurzen Gedächtnis kann entfallen, dass es auch dafür Vorbilder gibt. Das erste lieferte Deutschland im Dezember 1991. Noch ehe sich seine Partner und Verbündeten auf ein abgestimmtes Vorgehen verständigt hatten, kündigte die Bundesregierung an, diplomatische Beziehungen zu Slowenien und Kroatien aufzunehmen. Die jugoslawischen Teilungskriege nahmen ihren blutigen Lauf.
Das jüngste Beispiel bildet das Kosovo. Der Entschluss der meisten westlichen Länder, die Balkanprovinz als Staat anzuerkennen, widerspricht der einschlägigen UNO-Resolution 1244 vom Juni 1999 und erfolgte gegen russischen Protest. Russland seinerseits hat Abspaltungsbestrebungen innerhalb der eigenen Grenzen eher gedämpft als ermuntert. Ihm lag vordringlich daran, den Separatismus der Tschetschenen niederzuhalten.
Nun orientiert sich die russische Außenpolitik neu. Zu oft sah sie sich vom Westen hintergangen. Hatte der Westen nicht in der "Charta von Paris" dem postsowjetischen Russland ein Zeitalter der Einheit und Sicherheit versprochen? Mehr als eine Fußnote der Geschichte wurde daraus nicht. Als der Westen an die Neuordnung des Balkans ging, beschied er Moskau: Mitwirkung ja, Mitsprache nein. Die Nato-Russland-Akte von 1997 beschwor noch einmal einen "gemeinsamen Sicherheitsraum Europa" ohne neue Trennlinien und Einflusssphären. Zwei Jahre später begrüßte die Allianz die ersten drei neuen Mitglieder, inzwischen sind es zehn. Geht es nach Washington, wird sich mit der Aufnahme Georgiens und der Ukraine die Ostausdehnung des Bündnisses zügig fortsetzen. Nur die Rhetorik der Täuschung scheint jetzt entbehrlich. US-Militärstützpunkte in Rumänien und Bulgarien sind ebenso beschlossene Sache wie die Anti-Raketenbasen in Polen und der Tschechischen Republik.
Wie stets in weltpolitischen Turbulenzen ertönt der Ruf nach einem handlungsfähigen Europa. Damit tun sich die Regierungen der EU schwer. Von Strafmaßnahmen gegen Moskau sahen sie in weiser Einsicht ab. Sanktionen machen wenig Sinn, da sie nur dem Westen selbst schaden. Dafür wurde die Arbeit am fälligen Rahmenabkommen zur künftigen Zusammenarbeit mit Russland wieder auf Eis gelegt. Erst hatten einzelne Mitgliedstaaten wie Polen und Litauen die Verhandlungen verschleppt, nun gelang dem Nichtmitglied Georgien mit einem bewaffneten Handstreichs erneut die Unterbrechung. Doch in der Frage politischer Verantwortlichkeit für die Kaukasus-Krise urteilen die Europäer einseitig.
Schadensbegrenzung heißt das Gebot der Stunde. Dazu kann Russland beitragen, indem es den Verdacht entkräftet, sich südlich des Kaukasus festsetzen zu wollen, um Häfen, Verkehrsverbindungen und Pipelines eines Nachbarlandes dauerhaft zu kontrollieren. Wo sie weder nach den beiden früheren noch nach dem aktuellen Waffenstillstandsabkommen etwas zu suchen haben, ist der Verbleib russischer Truppen fehl am Platz. Allerdings kennt die Öffentlichkeit noch immer nicht den Wortlaut der von Frankreichs Präsident Sarkozy vermittelten Übereinkunft. Im Interesse aller Beteiligten sollte sie baldmöglichst durch eine breitere Vereinbarung abgelöst werden, die Transparenz schafft und international verifiziert wird.
Zur Schadensbegrenzung gehört auch, neuer Gewalt vorzubeugen. Im Schwarzen Meer sollte sich die militärische Tonnage nicht noch weiter erhöhen. Durch Flottenpräsenz politische Muskeln zu zeigen, ist ein Verhaltensmuster aus dem 19. Jahrhundert. Heute sind es die schwimmenden Einheiten atomarer Großmächte, die in dem engräumigen Binnenmeer manövrieren. Bestehen ausreichende Vorkehrungen, um Zwischenfälle zu verhindern und sich gegen ungewollte Eskalation abzusichern? Vielleicht lohnt es in Moskau wie Washington mal zu überprüfen, ob die legendären "roten Telefone" zwischen den Staatschefs noch funktionieren.
Auf mittlere Sicht muss es wieder um konzeptionelle Politik statt um kurzatmiges Krisenmanagement gehen. Ein erster Schritt wäre der einfache Vorsatz: weniger über und mehr mit Russland sprechen.
Was Russland will, das konnte man hierzulande schon öfters hören. Denn Zufall oder nicht - für ihre Botschaften scheint die Kremlführung deutsche Auditorien zu bevorzugen. Vor dem Deutschen Bundestag pochte Putin erstmals im September 2001 auf eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung, die diesen Namen verdient. Alle Fraktionen bedachten die Ansprache mit lang anhaltendem Beifall. Deutlicher im Ton trat Russlands Präsident im Februar 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz auf. Wer die Rede liest, findet begründete Beschwerden und erfüllbare Erwartungen. Sie überschreiten nicht den Rahmen legitimer Sicherheitsbelange, die jedes Land - zumal die westlichen - wie selbstverständlich für sich selbst in Anspruch nehmen.
Putins Nachfolger Medwedjew schließlich beklagte bei seinem Antrittsbesuch im Frühjahr in Berlin, dass sich die Nato fortlaufend neue Zuständigkeiten aneignet und Organisationen wie die UNO und die OSZE, denen auch Russland angehört, marginalisiert. Er warb für eine Reform der euroatlantischen Sicherheitsarchitektur, doch der Vorschlag blieb unbeachtet. Es wäre an der Zeit wäre, darüber zu reden, was er darunter versteht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW