Debatte Sprache, Macht und Lügen: "Die Steuern sind eine Last"
Politische Sprache ist Politik: Der Sozialstaat schade der Wirtschaft, behaupten seine Gegner unermüdlich. Doch diese Gesellschaft denkt solidarischer, als uns gerne weisgemacht wird.
S teuererleichterungen. Dieses Wort ist derzeit überall zu lesen und zu hören. Was sind Steuern also? Sie sind eine Last. Dann gilt die Regel: Je niedriger die Steuern, desto befreiter der Bürger. Und von hier aus ist der Weg zur Freiheit nicht mehr weit. Der Begriff steht parat: Steuerbefreiung.
In diesem Reden spiegelt sich der halbe Sieg der Gegner von Staat und Sozialstaat wider. Denn Steuern werden so in der Alltagssprache negativ gedeutet. Man könnte ja auch neutral von niedrigeren und höheren Steuern sprechen. Oder man könnte sie in einen positiven Deutungsrahmen setzen: Mit Steuerstärkungen kann der Staat, also wir alle zusammen, bessere Schulen, Straßen, Bibliotheken … bauen.
Bis Mitte der Achtzigerjahre galt auch für die Mehrheit der wirtschaftlichen und politischen Eliten in Deutschland im Grundsatz der Commonsense: Die Wirtschaft sei auch deshalb erfolgreich, weil es einen starken Wohlfahrtsstaat gebe, der eine exzellente Infrastruktur und sozialen Frieden zur Verfügung stelle.
Jahrgang 1952, war von 2002 bis 2006 Chefredakteur der Frankfurter Rundschau. Er lehrt an den Unis in Kassel und Frankfurt zum "Verhältnis Massenmedien und Politik" und schrieb zuletzt das Buch: "Alles Merkel? Schwarze Risiken. Bunte Revolutionen".
Es war nach der Wiedervereinigung, mit den mächtiger werdenden Finanzmärkten und der größer werdenden Europäischen Union, als die Wirtschaftselite und ihre politischen Gefolgsleute mit dieser Übereinkunft brachen und das pure Gegenteil behaupteten: Der Sozialstaat schade der Wirtschaft.
Die Stichworte sind bekannt. Die Gutachten der Wissenschaftler, die Stellungnahmen der Politiker, die Schlagzeilen der Mainstream-Medien – eine Bevölkerung abwechselnd unter massenmedialem Niesel- oder Platzregen. Eine freiwillige Gleichschaltung namens Herdentrieb.
Aber denkt das Publikum auch so, wie es die veröffentlichte Meinung ihm nahelegt? Meinungsforschungsinstitute haben in den vergangenen Jahren in Deutschland mehrfach das Bewusstsein des Volkes gemessen.
Nach einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung vom Juli 2006 sagen 83 Prozent der Bevölkerung, soziale Gerechtigkeit sei der wichtigste zu bewahrende Wert. Und 61 Prozent sagen, es gebe keine Mitte mehr, sondern nur noch ein Oben und Unten. In zwei weiteren Umfragen der Institute Allensbach und Emnid vom Herbst 2007 sind unabhängig von Parteizugehörigkeiten jeweils breite Mehrheiten von bis zu 80 Prozent dafür, einen Mindestlohn einzuführen, die Gewerkschaften zu stärken, und deutliche Mehrheiten sind gegen eine Rente mit 67, für einen stärkeren Staat und für ein Ende der Privatisierungen.
Das lehrt: Die dominierende veröffentlichte Meinung ist noch lange nicht dominierende Meinung der Öffentlichkeit, der Gesellschaft. Beide können sich sogar in elementaren Fragen widersprechen. Warum hat sich in diesem Fall ein solches Denken in Kategorien von Solidarität und Gerechtigkeit gehalten, gegen eine jahrelang herrschende veröffentlichte Meinung?
Eine der möglichen Antworten: Die Mehrheit der Menschen hat diese Argumente in ihrem Leben offensichtlich nicht wiedergefunden. Diese tiefe Diskrepanz zwischen persönlichem Alltag, dem Selbstbild der Bürger und öffentlicher Debatte ließ die herrschende Politik und ihre Worte offensichtlich unglaubwürdig werden.
Seit wenigen Monaten ist zu erleben, wie wichtige bürgerliche Kreise, die sich im weitesten Sinne um die FDP scharen, versuchen, die Werte und Begriffe (Steuer-)Gerechtigkeit, Freiheit und Leistung zu besetzen beziehungsweise sich neu anzueignen. Es geht hier um eine eigene Gerechtigkeitsdebatte der Mittelschichten, für die sich Gerechtigkeit eben nicht am Gut Solidarität, sondern am Gut Leistung auszurichten hat.
Ausgelöst wurde die Debatte vom Philosophen Peter Sloterdijk: Er hält den Sozial- und Steuerstaat ("Kleptokratie") für ungerecht, da er die Leistungsträger sehr belaste. Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender des Medienkonzerns Springer, hat im Jahr 2008 in einem langen Interview erläutert: "Die Steuern sind zu hoch. Vor einigen Jahrhunderten brachen Revolutionen aus, weil man den Leuten den Zehnten nahm. Heute nimmt der Staat die Hälfte."
Der Jenaer Wissenschaftler Stephan Lessenich meint: Die gehobenen Stände, die diese neue Bürgerbewegung ausmachten, wüssten "weite Teile der arbeitnehmerischen Mittelschichten und des freiberuflichen Mittelstands hinter sich".
In Deutschland bezahlen die leistungsbereiten qualifizierten Mittelschichten, deren Jahreseinkommen zwischen 50.000 und 70.000 Euro liegen, aufgrund der Steuerprogression prozentual die höchsten Steuern. Zudem erleben sie für sich selbst und ihre Kinder, dass das Grundversprechen dieser Leistungsgesellschaft nicht mehr gilt: Leistung ist längst keine Garantie mehr für sozialen Aufstieg.
Damit ist möglicherweise ein Punkt erreicht, vor dem der Sozialphilosoph Jürgen Habermas bereits Mitte der Achtzigerjahre warnte: Er sah die Achillesferse des Wohlfahrtsstaates im Sichabwenden der Mittelschichten und Leistungsträger, weil sie das Gefühl hätten, sie bezahlen via Steuern und Gebühren für den Sozialstaat und profitierten nicht von ihm.
Das verleiht diesem Kampf um die Definition von Gerechtigkeit und den Status des Steuer-Staates seine gesellschaftliche Kraft und Bedeutung. Am wichtigsten ist dabei die Sprache. Die Botschaft muss einleuchten. Sie muss einen Widerhall im Alltag der Menschen finden, sonst wirkt sie nicht.
Politische Sprache ist Politik. Der Kommunikationswissenschaftler Anil Jain weist der Metapher im politischen Geschäft eine bedeutende Rolle zu: Sie sei im Diskurs "ein machtvoller Ort".
Bisher scheinen vor allem die Marktradikalen dieses Geschäft zu beherrschen. Das war nicht immer so. Lesen wir nur kurz in diesen Text hinein: "Die fortwährende Umwälzung der Produktion […] zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allen anderen aus. […] Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht." Der Text: "Manifest der Kommunistischen Partei". Die Autoren: Karl Marx, Friedrich Engels.
Und für die noch an Aufklärung interessierten Medien bleibt die Aufgabe, ihr Publikum diesen Metaphern und Symbolen, egal wer sie verwendet, nicht auszuliefern, sondern deren (untergründige) Deutungen zu offenbaren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko