Debatte Sat.1-Reality-Soap: Gnadenlos selbstgerecht
In einer populistischen Doku-Serie begleitet Sat.1 zwei Sozialfahnder auf ihrer Mission. Der Sender heizt damit die Stimmung gegen Hartz-IV-Empfänger an.
U m 1880 setzte Alphonse Bertillon, Leiter des Identifikationsbüros der Pariser Polizei, einheitliche Standards in der Praxis der Verbrecherfotografie durch. Von ihm stammt die bis heute gültige Vorgabe, dass jeder Verhaftete einmal von vorn und einmal im Profil zu fotografieren sei. Dazu gab Bertillon die Anweisung aus: "Der gezwungene Klient, welcher vor das Objectiv geführt wird, darf seine Geschmacksrichtung und Wünsche bezüglich des Bildes nicht kundgeben und damit ist die grösste Schwierigkeit behoben." Die Abzubildenden hatten sich vollständig der Kamera zu unterwerfen.
Die Idee dahinter: Erstens sollte der wahre Charakter des Kriminellen unverfälscht hervortreten, der sich sonst durch Verstellung unkenntlich gemacht hätte. Zweitens wollte Bertillon damit Sorge tragen, dass sein Atelier nicht mit einem bürgerlichen Fotostudio verwechselt werden konnte. Jahrhundertelang war es das Privileg der Herrschenden, porträtiert zu werden. Mit der Erfindung der Fotografie konnte plötzlich auch das Bürgertum sein Selbstbildnis in Händen halten. Dass auch Kriminelle und Asoziale in den Genuss des Fotografiertwerdens kommen sollten, war anfangs höchst umstritten. Der Zwang, den Bertillon auf seine "Klienten" ausübte, sollte nicht zuletzt das Bürgertum beruhigen und dessen Abgrenzung nach unten sichern.
Heute kennt das Reich des Abbildbaren bekanntlich kaum noch Grenzen. Die Reichen und Schönen pochen deshalb heute vor Gericht auf das Recht, mit dem Fotografiertwerden endlich auch mal in Ruhe gelassen zu werden. Die Idee aber, dass das Verbrechen ein Gesicht hat, das im Bild sichtbar gemacht werden kann, ist uns geblieben.
Die Macher der Sat.1-Reality-Soap "Gnadenlos gerecht" (mittwochs, 21.45 Uhr), in der ein Kamerateam zwei Sozialfahnder dabei begleitet, wie diese möglichen Betrügereien unter ALG-II-Leistungsbeziehern nachgehen, haben zwei unterschiedliche Strategien entwickelt, ihre "Klienten" für die Mattscheibe zu inszenieren: Wer sich vor der Kamera herzeigt, gehört zu den Guten. Die Gesichter derjenigen, die am Ende einer Episode eine Anzeige kassieren werden, werden digital kaschiert, ihre Aussagen nachträglich eingesprochen. Weil oft auch die sonstigen privaten Lebensumstände der Überführten durch Unschärfe vernebelt (und die Namen - piep! - übertönt) werden, hat das den mitunter bizarren Effekt, dass die Sozialermittlerin Helena Fürst als letztes deutlich sichtbares Element in einem Bild voller wabernder Schlieren übrig bleibt. Der Kampf der Aufklärung gegen Trug und Verstellung - eindrücklicher könnte man ihn nicht ins Bild setzen.
Natürlich mag kaum einer, der vor laufender Kamera als Betrüger an den Pranger gestellt wird - und zwar noch vor jedem ordentlichen Gerichtsverfahren, das eine Schuld erst rechtsgültig feststellen kann! -, hinterher sein Einverständnis geben, fürs TV-Publikum abgebildet zu werden. Insofern sind die unterschiedlichen Darstellungsweisen von "berechtigten" und "betrügerischen" Hartz-IV-Empfängern nicht nur dem Kalkül des Senders geschuldet. Aber auch wer nach der Fürstschen Prüfung eine weiße Weste bescheinigt bekommt, wäre nicht verpflichtet, ein Fernsehteam in seine Wohnung zu lassen.
Aus dieser Ungleichbehandlung in der Repräsentation ergibt sich der fatale Eindruck, dass schuldig ist, wer den Medien sein Bild verwehrt - und dass, wer nichts zu verbergen, auch nichts zu befürchten hat. Nun muss, wer Hilfe zum Lebensunterhalt beantragt, vor dem Staat und seinen Bediensteten ohnehin alles offenlegen - auch intime Fragen der Art, ob man in einer Beziehung lebt oder nicht. Die Fernsehnation in seinen Kühlschrank blicken zu lassen, gehört nicht zu diesen Pflichten. Doch wehe, wenn Ermittlerin Fürst oder ihr Kollege Hofmeister bei ihren Schnüffeltouren dort eine Champagnerflasche entdecken: Das macht verdächtig. Dann sieht Bedürftigkeit nicht so aus, wie sie aussehen sollte, nämlich ausgezehrt und dankbar für die Almosen, die der Staat ihr zuwirft.
Die Gesellschaft hat die Bedürftigen stets in zwei Klassen geteilt: in die ehrlichen, die die Fürsorge unserer christlichen Nächstenliebe verdienen einerseits, und die faulen Parasiten am Allgemeinwohl andererseits. Mit Wohltaten an den einen beruhigen wir unser schlechtes Gewissen. An den anderen lassen wir unseren Zorn und unsere Ressentiments aus. Nun hat der Staat selbstverständlich das Recht, dafür zu sorgen, dass seine Sozialleistungen nur von denjenigen in Anspruch genommen werden, die ein gesetzliches Anrecht darauf haben. Daraus ein Unterhaltungsformat mit moralischem Unterton zu machen, ist etwas völlig anderes.
Dabei greift die Kritik zu kurz, die im Sat.1-Format bloß eine Diffamierung der Unterschicht wittert. Sicher, die Quote der aufgedeckten ALG-II-Betrüger ist bei Sat.1 um ein Vielfaches höher als in der Wirklichkeit - von Ausgewogenheit keine Spur. Aber es geht ja nicht um objektive Berichterstattung, sondern um Meinungsmache. Und immerhin bekommen die Guten am Ende ihre Belohnung, während die Bösewichte "gnadenlos gerecht" ihrer verdienten Strafe zugeführt werden.
Da ist die "Sozialschmarotzer"-Kampagne des Bild-Boulevards um einiges pessimistischer: Sie präsentiert geradezu wollüstig den listenreichen Hart-IV-Abzocker, der so gewieft ist, dass er dem machtlosen Staat den Mittelfinger zeigen kann. Doch das eigentlich Perfide der Sat.1-Sendung besteht in der Suggestion, dass Denunziantentum in Ordnung sei; dass es okay ist, wenn der Staat seine Nase in Privatsachen steckt und dass die Ermittler ihre Entscheidung nach objektiven und nachvollziehbaren Kriterien fällen. Dass die Beihilfen zu niedrig sind, um anständig davon zu leben, und manchen Betroffenen keine andere Wahl bleibt, als unerlaubte Nebeneinkünfte anzustreben, wird nicht vermutet. Grundsätzliche Zweifel an ihrer Aufgabe kommen Frau Fürst nicht.
Die Forderung, jetzt müsse das Fernsehen gerechterweise auch Steuerfahnder in die Villen und Landsitze der Besserverdiener begleiten, ist aber zu billig. Wenn schon, dann sollte man fragen: Wo bleibt die wöchentliche Dokumentation des Alltags derjenigen, die von 345 Euro Regelsatz pro Monat leben müssen? Doch vermutlich würde auch solch ein Format rasch diffamierende Züge annehmen. Schließlich kennen die Senderverantwortlichen die Ergebnisse der jüngsten Heitmeyer-Studie. Diejenigen, die am ehesten die Auffassung vertreten, dass Hartz-IV-Empfänger nur zu faul sind, sich ihr Einkommen auf ehrliche Weise zu verdienen, stehen demnach im sozialen Ranking nur knapp darüber. Und sie sind wiederum jene, die im Privatfernsehen für Quote sorgen.
Nein, wenn Hartz-IV-Empfänger damit rechnen müssen, dass zu jeder Zeit ein TV-Team auf der Matte stehen kann, gibt es nur eine Lösung: dass die "gezwungenen Klienten" sich nicht länger abbilden lassen. Sondern ihre Wünsche kundgeben und Schwierigkeiten machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Fußball WM 2030 und 2034
Der Profit bleibt am Ball