Debatte Junge Utopien: Die langsame Stadt
Elektroautos sind chic, das Fahrrad ist die Norm, keiner fährt schneller als 30 km/h, und die Lebensmittel werden übers Internet geordert.
G eht es um unsere Städte, wird fast ausschließlich über steigende Mieten und die Verdrängung von Armen aus attraktiven Stadtvierteln diskutiert. Gentrifizierung ist das allgegenwärtige Stichwort, das so inflationär gebraucht wird, dass es den in der Tat bedrohlichen Vorgängen ihr Gewicht nimmt.
Mir ist die Debatte um Gentrifizierung zu wenig. Wenn es um die Zukunft der Stadt als Ganzes geht, müssen noch andere Fragen auf die Agenda gesetzt werden: Wollen wir unser Obst und Gemüse selbst anbauen? Wie können wir den Flächenverbrauch begrenzen? Wollen wir mehr Radwege, neue Straßen oder mehr Tramlinien? Wie können wir in den Städten leben, damit die jungen Menschen nach uns auch noch gern und gut dort aufwachsen? Die Zukunft der Stadt braucht eine Vision.
Es ist kein Zufall, dass die Diskussion um Sozialmieten und die Wohnpreise in Szenevierteln vor allem dort geführt wird, wo sich die Herausforderungen ballen: in Berlin. Immerhin erinnern sich die Politiker an stadtentwicklungspolitische Fragen. Die Grünen, die Linken, die Sozialdemokraten, alle arbeiten derzeit an Pamphleten zu ihrer Vorstellung einer sozialen Stadt. Selten indes ist Handfestes dabei. Die einen wollen Mietdeckelungen und geförderten Wohnungsbau - wissen aber nicht, woher das Geld kommen soll. Die anderen bauen ihre Programme auf der Annahme auf, dass Wohnen in der Hauptstadt doch im Vergleich zu anderen Metropolen günstig sei.
Kristina Pezzei, 32, ist Berlin-Redakteurin der taz. Mit Städten und ihrer Entwicklung hat sie sich schon im Studium beschäftigt. Seit sie in Berlin wohnt, hat sie die Stille auf dem Land neu schätzen gelernt.
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Alles schön und gut, alles im Einzelnen wichtig. Aber welches Klein-Klein, welche Wortwahl! Ich habe von Bruttowarmmieten, Fassadendämmung, Mietobergrenzen und Deckelungshöhen die Nase voll. Ich will zuerst eine Utopie, für die Stadt als Ganzes.
Zuerst will ich in einer Stadt leben, die klare Grenzen hat. Eigenheimzulage samt Jägerzaun im Vorort, Kilometerpauschale für den Kombi, das schreckt ab. Die Stadt ist die Stadt, das Land darumherum Land. Wer in der Stadt arbeitet, lebt auch dort - und hat sich den Grund unterm Haus gemeinsam mit den übrigen Bewohnern gekauft. Die Schlafsiedlungen im Dunstkreis von Metropolen entvölkern sich langsam. Die Menschen ziehen zurück, denn Autofahren ist viel zu teuer geworden, und das Nahverkehrs- und Radleitsystem in der Stadt so gut, dass es sich zentral gut und ruhig wohnen lässt. Wo weniger Autos fahren, ist es leiser. Die Kinder spielen ungestört in den innerstädtischen Vorgärten, denn die schmaleren Straßen lassen mehr Platz für Grün. Auf dem Land freuen sich Tiere und Pflanzen über die entkernten Siedlungen. Wo Fertighäuser und Kreisverkehre Flächen versiegelten, entfaltet sich auf Feuchtwiesen eine ungeahnte Artenvielfalt. Bauern können bis an die Stadtgrenzen hin Getreide, Obst und Gemüse anbauen und es auf kurzem Weg in die Stadt bringen, um die Menschen dort zu versorgen. Genauso schnell geht es für die Berliner und Berlinerinnen, am Wochenende ins Grüne zu fahren. Naherholung wird wieder, was es heißt: Erholung in der Nähe.
Zweitens: Der Verkehr in der Stadt orientiert sich an den Langsamen. Fußgänger und Radfahrer bestimmen das Straßenbild; nur Busse haben Vorfahrt. Auf allen Straßen ist mindestens genauso viel Platz für Radler wie für Autofahrer. Grüne Welle gibt es nach der Fahrgeschwindigkeit von Radfahrern; wer unbedingt Autofahren will, muss sich dem unterordnen. Tempo 30 ist längst Maximalgeschwindigkeit. Elektroautos gelten als schick, für Personen des öffentlichen Lebens als Muss. Ohnehin besitzen nur noch die wenigsten ein eigenes Auto. Das System aus öffentlichen Wagen, die mit dem Nahverkehr kombiniert werden können, ist so unkompliziert und günstig, dass sich die Anschaffung nicht lohnt. Lebensmittel werden übers Internet bestellt und angeliefert oder auf dem lokalen Wochenmarkt besorgt. Viele Parkplätze werden überflüssig. Sie werden zu Stadtgärten umgestaltet und gemeinsam mit Wohnungen vermietet, wie früher Stellplätze. Nebeneffekt: Die Menschen sind mehr draußen. Sie sprechen miteinander, sie lernen sich kennen, sie leben gemeinsam.
"Ist ja schön!"
Drittens: Ich will in einer Stadt leben, in der ich mich überall sicher fühle. In der Stadt der Zukunft gibt es keine No-go-Areas. Reiche leben mit Ärmeren, Menschen aus Bayern mit welchen aus Belgien, Türkischstämmige mit gebürtigen Schleswig-Holsteinern im Haus. Na und? An den Schulen treffen sich die Kinder unterschiedlicher Herkunft, und sie lernen gemeinsam. Wichtig ist, wer sie sind, nicht, wo sie herkommen. Das macht die Viertel sicher: Wo alle anerkannt und unterschiedlich sein dürfen, können alle sein.
Ich will auch in einer Stadt leben, in der jeder und jede das findet, wonach ihm und ihr behagt. Ich muss nicht überall gleich gern sein. Wer Trubel sucht, soll im Trubel eine bezahlbare Wohnung finden. Wer Ruhe sucht, soll nicht zum Umzug aufs Land gezwungen werden, sondern stille, ebenfalls bezahlbare Flecken finden. Und zwar ohne Stempel: Ich bin nicht hip und Latte-macchiato-Trinkerin, weil ich gern in Prenzlauer Berg lebe. Ich bin nicht spießig, weil ich in Hamburg-Eppendorf wohnen will, und ich bin kein Snob, weil ich in München-Nymphenburg daheim bin. Jede Gegend ist gleich viel wert; auf die Auskunft, wo ich wohne, will ich hören: "Ist ja schön!"
Ich will in einer Stadt leben, in der jede und jeder Platz und Lebensqualität überall findet. Uneingeschränkt und unabhängig davon, ob er oder sie schwarz oder weiß, Brillen- oder Kontaktlinsenträger ist, ob er bayerische oder türkische Wurzeln hat oder aus Wanne-Eickel stammt. Das Leben ist vom Miteinander bestimmt, bei dem das Private nicht verloren geht: Wir pflanzen in der Straßenmitte gemeinsam einen Baum, und danach kann sich um seinen eigenen Garten kümmern, wer will. Die anderen setzen sich auf die Bank unter dem Baum und planen die nächste Baumpflanzung.
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