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Debatte Junge UtopienDie langsame Stadt

Kommentar von Kristina Pezzei

Elektroautos sind chic, das Fahrrad ist die Norm, keiner fährt schneller als 30 km/h, und die Lebensmittel werden übers Internet geordert.

Freiburger Stadtteil Vauban: Auch in der Stadt müssen Kinder einen Platz zum Spielen haben. Bild: dpa

G eht es um unsere Städte, wird fast ausschließlich über steigende Mieten und die Verdrängung von Armen aus attraktiven Stadtvierteln diskutiert. Gentrifizierung ist das allgegenwärtige Stichwort, das so inflationär gebraucht wird, dass es den in der Tat bedrohlichen Vorgängen ihr Gewicht nimmt.

Mir ist die Debatte um Gentrifizierung zu wenig. Wenn es um die Zukunft der Stadt als Ganzes geht, müssen noch andere Fragen auf die Agenda gesetzt werden: Wollen wir unser Obst und Gemüse selbst anbauen? Wie können wir den Flächenverbrauch begrenzen? Wollen wir mehr Radwege, neue Straßen oder mehr Tramlinien? Wie können wir in den Städten leben, damit die jungen Menschen nach uns auch noch gern und gut dort aufwachsen? Die Zukunft der Stadt braucht eine Vision.

Es ist kein Zufall, dass die Diskussion um Sozialmieten und die Wohnpreise in Szenevierteln vor allem dort geführt wird, wo sich die Herausforderungen ballen: in Berlin. Immerhin erinnern sich die Politiker an stadtentwicklungspolitische Fragen. Die Grünen, die Linken, die Sozialdemokraten, alle arbeiten derzeit an Pamphleten zu ihrer Vorstellung einer sozialen Stadt. Selten indes ist Handfestes dabei. Die einen wollen Mietdeckelungen und geförderten Wohnungsbau - wissen aber nicht, woher das Geld kommen soll. Die anderen bauen ihre Programme auf der Annahme auf, dass Wohnen in der Hauptstadt doch im Vergleich zu anderen Metropolen günstig sei.

Kristina Pezzei

Kristina Pezzei, 32, ist Berlin-Redakteurin der taz. Mit Städten und ihrer Entwicklung hat sie sich schon im Studium beschäftigt. Seit sie in Berlin wohnt, hat sie die Stille auf dem Land neu schätzen gelernt.

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Alles schön und gut, alles im Einzelnen wichtig. Aber welches Klein-Klein, welche Wortwahl! Ich habe von Bruttowarmmieten, Fassadendämmung, Mietobergrenzen und Deckelungshöhen die Nase voll. Ich will zuerst eine Utopie, für die Stadt als Ganzes.

Zuerst will ich in einer Stadt leben, die klare Grenzen hat. Eigenheimzulage samt Jägerzaun im Vorort, Kilometerpauschale für den Kombi, das schreckt ab. Die Stadt ist die Stadt, das Land darumherum Land. Wer in der Stadt arbeitet, lebt auch dort - und hat sich den Grund unterm Haus gemeinsam mit den übrigen Bewohnern gekauft. Die Schlafsiedlungen im Dunstkreis von Metropolen entvölkern sich langsam. Die Menschen ziehen zurück, denn Autofahren ist viel zu teuer geworden, und das Nahverkehrs- und Radleitsystem in der Stadt so gut, dass es sich zentral gut und ruhig wohnen lässt. Wo weniger Autos fahren, ist es leiser. Die Kinder spielen ungestört in den innerstädtischen Vorgärten, denn die schmaleren Straßen lassen mehr Platz für Grün. Auf dem Land freuen sich Tiere und Pflanzen über die entkernten Siedlungen. Wo Fertighäuser und Kreisverkehre Flächen versiegelten, entfaltet sich auf Feuchtwiesen eine ungeahnte Artenvielfalt. Bauern können bis an die Stadtgrenzen hin Getreide, Obst und Gemüse anbauen und es auf kurzem Weg in die Stadt bringen, um die Menschen dort zu versorgen. Genauso schnell geht es für die Berliner und Berlinerinnen, am Wochenende ins Grüne zu fahren. Naherholung wird wieder, was es heißt: Erholung in der Nähe.

Zweitens: Der Verkehr in der Stadt orientiert sich an den Langsamen. Fußgänger und Radfahrer bestimmen das Straßenbild; nur Busse haben Vorfahrt. Auf allen Straßen ist mindestens genauso viel Platz für Radler wie für Autofahrer. Grüne Welle gibt es nach der Fahrgeschwindigkeit von Radfahrern; wer unbedingt Autofahren will, muss sich dem unterordnen. Tempo 30 ist längst Maximalgeschwindigkeit. Elektroautos gelten als schick, für Personen des öffentlichen Lebens als Muss. Ohnehin besitzen nur noch die wenigsten ein eigenes Auto. Das System aus öffentlichen Wagen, die mit dem Nahverkehr kombiniert werden können, ist so unkompliziert und günstig, dass sich die Anschaffung nicht lohnt. Lebensmittel werden übers Internet bestellt und angeliefert oder auf dem lokalen Wochenmarkt besorgt. Viele Parkplätze werden überflüssig. Sie werden zu Stadtgärten umgestaltet und gemeinsam mit Wohnungen vermietet, wie früher Stellplätze. Nebeneffekt: Die Menschen sind mehr draußen. Sie sprechen miteinander, sie lernen sich kennen, sie leben gemeinsam.

"Ist ja schön!"

Drittens: Ich will in einer Stadt leben, in der ich mich überall sicher fühle. In der Stadt der Zukunft gibt es keine No-go-Areas. Reiche leben mit Ärmeren, Menschen aus Bayern mit welchen aus Belgien, Türkischstämmige mit gebürtigen Schleswig-Holsteinern im Haus. Na und? An den Schulen treffen sich die Kinder unterschiedlicher Herkunft, und sie lernen gemeinsam. Wichtig ist, wer sie sind, nicht, wo sie herkommen. Das macht die Viertel sicher: Wo alle anerkannt und unterschiedlich sein dürfen, können alle sein.

Ich will auch in einer Stadt leben, in der jeder und jede das findet, wonach ihm und ihr behagt. Ich muss nicht überall gleich gern sein. Wer Trubel sucht, soll im Trubel eine bezahlbare Wohnung finden. Wer Ruhe sucht, soll nicht zum Umzug aufs Land gezwungen werden, sondern stille, ebenfalls bezahlbare Flecken finden. Und zwar ohne Stempel: Ich bin nicht hip und Latte-macchiato-Trinkerin, weil ich gern in Prenzlauer Berg lebe. Ich bin nicht spießig, weil ich in Hamburg-Eppendorf wohnen will, und ich bin kein Snob, weil ich in München-Nymphenburg daheim bin. Jede Gegend ist gleich viel wert; auf die Auskunft, wo ich wohne, will ich hören: "Ist ja schön!"

Ich will in einer Stadt leben, in der jede und jeder Platz und Lebensqualität überall findet. Uneingeschränkt und unabhängig davon, ob er oder sie schwarz oder weiß, Brillen- oder Kontaktlinsenträger ist, ob er bayerische oder türkische Wurzeln hat oder aus Wanne-Eickel stammt. Das Leben ist vom Miteinander bestimmt, bei dem das Private nicht verloren geht: Wir pflanzen in der Straßenmitte gemeinsam einen Baum, und danach kann sich um seinen eigenen Garten kümmern, wer will. Die anderen setzen sich auf die Bank unter dem Baum und planen die nächste Baumpflanzung.

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16 Kommentare

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  • J
    Jonathan

    Die Autorin verkennt völlig, dass Gentrifizierung jedoch in keinem Gebiet Deutschlands so relevant ist, wie in Berlin Prenzlauer Berg, eine Nivellierung ist daher vollkommen falsch. Auch hat man es gerade in Prenzlauer Berg mit den gentrifizierenden Zugereisten geschafft, in kürzester Zeit einen Hort/ Hafen der Opposition und Intellektuellen zu beseitigen, so dass diese innerhalb von zehn Jahren durch konsumorientierte und scheinökologische Hedonist-inn-en vertreiben und ausgetauscht wurden. Wer das nicht sieht, dem fehlt das soziale Bewusstsein.

  • Y
    Yadgar

    Und was machen dann die Leute, die partout nicht gleich sein wollen, sondern sich lieber in paramilitärisch abgeschotteten Villenvierteln vor den ganzen Prolls da draußen verschanzen? Was ist mit denen, die mit 30 km/h daherzuckelnde Elektrowägelchen "voll schwul" finden und stattdessen ihre Nachbarschaft mittels tiefergelegter, auspuffröhrender und basswummernder 3er-BMWs terrorisieren? Wo wohnen dann die "politisch Unkorrekten", die schon Schweißausbrüche bekommen, wenn sie nur an "Musels" denken? Gibt es Sonderquartiere für Maskulisten, Anarchokapitalisten, Sedisvakantisten?

     

    Die Ideale der Alternativbewegung in den 70er und frühen 80er Jahren sind vor allem daran gescheitert, dass die allermeisten Menschen keine Alternativen sind...

  • HH
    Hi Hi,

    ...und die im Internet bestellten Waren werden dann mit Elektroautos mit Tempo 30 ausgeliefert. Wie soll das aussehen? Das ist ja dann wohl das Ende der Beschaulichkeit, weil alle Straßen verstopft sind.

  • V
    virtualbox

    Also ich möchte nicht in so einer Stadt leben.

    - Ich habe gerne ein Auto - gerade weil meine Eltern 400 km weit weg wohnen und ich sie gerne Besuche.

    - Ich gehe auch gerne in den Supermarkt zum einkaufen und finde es ausser für Bücher eher hinderlich im Internet zu bestellen.

    - Ich komme in der Stadt gerne schnell ans Ziel - und wer in Berlin schon mal versucht hat mit Tempo 30 von einem Ende der Stadt zum anderen zu kommen, weiss wieviel das wert ist.

     

    Jeder soll nach der Utopie in der Stadt so leben können wie er gerne möchte - warum darf ich dann nicht?

  • L
    lars

    was hier beschrieben wird ist ein sozialistischer albtraum. genauso stand es vermutlich in dem konzept zu halle-neustadt. ich möchte nicht mit frau pezzei elektro-auto fahren oder bäume pflanzen. das können sie gerne alles tun. schon jetzt. bloß verschonen sie bitte mich oder die gesellschaft.

  • I
    imation

    Ihren Kommentar hier eingeben:

    "Langsame Städte" gibt es bereits, die nennen sich dann Dorf.

    wer so leben will kann da gerne hinziehen. Was aber passiert wenn Leute wie auf dem Dorf in der Grossstadt leben wollen kann man sich in Berlin Prenzlauer Berg ansehen.

  • R
    roro

    Der Artikel erinnert mich eein wenig an vergangene Jahrzehnte, in denen versucht wurde gesellschaftliche Entwicklungen mithilfe des Städtebaus zu beeinflussen. Doch ist dies ein Ansatz längst in den Schubladen verschwunden ist, daher wundere ich mich, dass er für diesen Artikel Verwendung findet. Denn klar ist längst: Die Stadt ist eher Spiegelbild der Gesellschaft, die Gesellschaft kann kein Spiegelbild der Stadt sein.

    So schön sich die beschriebene Utopie auch anhören mag, die Ansätze für eine (vermeintlich) bessere Gesellschaft liegen nicht im Städtebau, sondern im (Gesellschafts-/Wirtschafts-)System als ganzes.

  • G
    grapfinger

    Schöne Utopie, entspricht ziemlich genau dem, was die Grünen 1978 im Europa-Wahlkampf versprachen :-)

    Gilt für mich heute fast alles noch genauso. Und als Utopie muß es gedacht werden können ohne deswegen gleich als Fantasma abgestempelt zu werden.

    Gesellschaftliche Veränderungen lassen sich kaum auf dogmatischem Wege herbeiführen. Soviel sollten wir aus der Vergangenheit gelernt haben. Die BEreitschaft etwas zu verändern wächst aber mit der positiven Vorstellungskraft vom zu erreichenden Ziel - und dem Weg dahin!

  • S
    smash_what

    schöner Artikel und bezahlen gerne, aber wo ist die micro/giropay funktion / der paypal donate button / die one click irgendwas Funktion oder was es sonst noch gibt... das würde vermutlich zu deutlich mehr Spontanspenden führen.

  • AM
    Anja M.

    Ein schöner Artikel! So möchte ich es auch haben, in Hamburg. Grüße

  • PK
    Peter Kruse

    hallo kristina,

    ich finde deine utopie überzeugend dargestellt. sie ist ein klares bekenntnis zum umweltschutz und zur menschlichkeit.

    dem entgegen stehen sehr starke kräfte in mächtigen positionen. deren system funktioniert mit geld, also ist es an dieser stelle am ehesten angreifbar. ich bin bereit für die arbeit an einer anderen stadt.

    peter, student der architektur

  • BK
    bengt karlsson

    hach ja! seufz, usw.

    hier will jemand dörfliches leben, gepaart mit dem lebensstandard und der gesellschaftlichen offenheit der großstadt. dass zwischen diesen polen z.t. erhebliche konflikte bestehen, und dass genau diese konflikte den kern dessen ausmachen, was eine >>stadt

  • P
    Parizifal

    Jedes Stadtviertel gleicht dem anderen, es gibt keine No-go-areas mehr und die Menschen leben jenseits aller Unterschiede in einem warmen Singsang. Das Axiom, das die Autorin voraussetzt, ist natürlich, dass die darin lebenden Menschen auch keine Unterschiede mehr haben. Bzw. sind Unterschiede wie unterschiedliche ethnische Zugehörigkeit, Bildung, Hautfarbe oder das Gehalt eben nicht mehr relevant. Unterschiede, die nicht mehr relevant sind, sind auch keine Unterschiede mehr. Aber an diesem kleinen Detail scheitert die Utopie. An der Differenz, die gesellschaftliche Wirklichkeit bestimmt.

     

    Wer in einer No-go-aera lebt, tut dies normalerweise nicht freiwillig. Er lebt dort, weil er keine andere Möglichkeit hat, in einem anderen Teil der Stadt zu leben. So ist der Bevölkerungsteil in Chicago, jenseits der 59ten Straße ausschließlich schwarz. Als Weißer kann man dort natürlich leben, aber das Risiko einem rassistischen Verbrechen zum Opfer zu fallen ist größer. So bilden Differenzen in jeder Gesellschaft Bruchlinien. Sie bilden das heraus, was als gesellschaftliche Wirklichkeit auftritt.

    Gesellschaftliche Veränderungen führt man herbei, indem man diese Bruchlinien aufzeigt und dann versucht, sie zu verändern. Der Wunsch die Differenz an sich auszublenden, führt nur zu einer gedanklichen Harmonie, ein Standbild einer noch nicht dagewesenen Gesellschaft.

    Das Urfantasma der aufgehobenen Differenz ist das Paradies, dasjeninge der radikalen Differenz ist die Hölle.

    Dass das Denken Differenz ist, merkt man spätestens daran, dass es einfacher ist, sich die Hölle vorzustellen als das Paradies.

     

    Die vorgestellte Städteutopie ist eine Art negierte Hölle. Das stinkende Auto wird zum Elektroauto, die Ghettos werden zu Nachbarschaftscommunities. Das Paradies ist ähnlich wie Kants Ewiger Frieden, nur auf dem Friedhof erreichbar.

  • M
    midy

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    Bin kein Berliner aber das Ruhrgebiet sollte sich auch mal in Richtung Zukunft bewegen.

  • TF
    Thomas Fluhr

    Die vielen 'ICH WILL' sind der Grund warum es nie so wird, weil jeder hat sein eigenes 'ICH WILL', die nie unter einen Hut gehen.

  • R
    rare_hog

    also ich habe mittlerweile genug leute kennengelernt, die zwar in einer stadt wohnen, aber trotzdem pendeln: von Ludwigshafen / rhein nach stuttgart bzw. frankfurt, von pforzheim nach mannheim, von neustadt/weinstrasse nach heidelberg und und und ...

    es nutzt gar nix, in der stadt zu wohnen, wenn man alle 4 jahre woanders hin versetzt wird oder keinen job in der eigenen stadt findet. firmem fusionieren, gehen konkurs, werden geschluckt oder umstrukturiert, und jedesmal muss der arbeitnehmer wo anders antreten.

    ob ich jetzt vom kuhdorf hinterhoppedottel nach stuttgart 100 km einfach fahre (fahren MUSS) oder von stadt a nach b dieselbe strecke, wo ist der unterschied? aber die höhere miete bzw. den höheren preis für den bauplatz habe ich in der stadt garantiert! wohingegen man auf dem land viel billiger und ruhiger wohnt, weniger kriminalität, mehr natur ...