Debatte Grüne in Hamburg: Wir wählen ein Lebensgefühl
Armut, Erwerbslosigkeit, Gentrifizierung – über diese Themen ist der Grünen-Anhänger in Hamburg erhaben. Lieber glaubt er an die Fantasien eines kuscheligen Großstadtlebens.
![](https://taz.de/picture/282719/14/eimsbuetteeeeell.20110120-16.jpg)
"Für Hamburg - Deine Stadt" lautet der zentrale Slogan der Grün-Alternativen Liste (GAL) im aktuellen Wahlkampf. Nachdem die Grünen Ende November die Koalition mit der CDU haben platzen lassen, soll nun am 20. Februar die Bürgerschaft neu gewählt werden. Mit dem Bekenntnis "Für Hamburg - Deine Stadt" will sich die GAL offenbar von CDU, SPD und der Linken unterscheiden, ganz so, als wären diese etwa gegen Hamburg?
Wohl kaum, sonst würden sie nicht kandidieren. Die neue GAL-Parole erinnert daher an die Kampagnen der Titanic-Partei "Die Partei", bei denen sie mit Scherzbekenntnissen wie "Für eine Zukunft mit Zukunft!" oder "Hamburg - Stadt im Norden" die hohlen Phrasen der etablierten Parteien auf die Schippe nehmen wollte.
Jetzt droht die Satire zu einer Erfolgsstory zu werden. Erstmals in ihrer Geschichte führt die einstige Protestpartei einen weitgehend inhaltsbefreiten Wahlkampf. Das Publikum goutiert ihn mit frenetischem Applaus. Glaubt man an die Umfragen, käme die GAL nun auf 17 Prozent. Bei der letzten Bürgerschaftswahl vor drei Jahren waren es nur 9,6 Prozent. Das ist ein gewaltiger Zustimmungserfolg, obwohl die Parteiführung kaum etwas Konkretes versprechen mag, damit sie nachher in der Regierung nicht wieder gescholten werden kann, wie sie freimütig einräumt.
Der Wiederaufbau eines Straßenbahnnetzes (Stadtbahn) und die Rekommunalisierung der Energienetze sind die beiden einzigen konkreten Versprechen, mit denen sich die GAL aus dem Fenster lehnt. Das Kleingedruckte im 50 Seiten dicken Wahlprogramm dürfte kaum einer der Anhänger gelesen haben. Was drinsteht, spielt für die Beurteilung der Partei ohnehin keine Rolle, ebenso wenig wie ihre realpolitische Bilanz nach zweieinhalb Jahren schwarz-grüner Koalition.
Mit allen ihren zentralen Forderungen ist die GAL nämlich gescheitert: kein neues Kohlekraftwerk im Stadtteil Moorburg ("Kohle von Beust"), die Elbvertiefung verhindern - Moorburg wird gebaut, die Elbvertiefung kommt. Die gemeinsame Primarschule bis zur 6. Klasse wurde per Volksentscheid gekippt, statt familienfreundlicher Kinderbetreuung wurden die Kita-Gebühren kräftig erhöht.
Dass sich das einfache Wahlvolk durch Wohnungsnot und rapide steigende Mieten das Leben in der "kreativen Stadt" (GAL-Slogan) kaum noch leisten kann, merkte die grüne Stadtentwicklungssenatorin erst, als die neue Basisbewegung "Recht auf Stadt" die Herzen der Medienschaffenden erobert hatte. Statt Sozialwohnungen zu bauen, wurden weiter die wertvollen Stadtflächen mit Bürotürmen zugepflastert, die bis heute leer stehen. Das knappe Geld in der Stadtkasse floss in die sündhaft teure Elbphilharmonie und in das futuristische Reichenghetto Hafencity.
Armut? Da stehen wir drüber
Über all die profanen Niederungen des Alltags scheinen die GAL-Anhänger erhaben zu sein: Armut, Erwerbslosigkeit, Gentrifizierung, steigende Gebühren. Denn das sind die Sorgen der Unterschicht. In den Stadtrandghettos kommt die GAL ohnehin nur knapp über die Fünf-Prozent-Marke. Die ehemals linken Lehrer in den hochglanzsanierten Altbauvierteln denken über ihre Verantwortung für die Zukunft nach, weil in der Gegenwart die Welt für sie längst in Ordnung ist, wie sie ist.
Prima Klima, grüne Wirtschaft, Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie, etwas mehr Bürgerbeteiligung und buntes Multikulti-Feeling. Das politische Wellnessprogramm für eine heile Mittelschichtswelt. Damit geht die GAL jetzt auf Stimmenfang. Je schwammiger, desto erfolgreicher. Was zählt, ist einzig die Symbolik. Die Farbe Grün, der postkonventionelle Habitus, das akademisch-urbane Flair der karrierebewussten Führungsfiguren auf den Plakaten.
Die Farbe Grün bedeutet nichts weiter als das Lebensgefühl eines gewissen Milieus. Es sind jene "feinen Unterschiede", auf die schon Pierre Bourdieu hingewiesen hat, mit deren Hilfe sich die städtischen Subkulturen voneinander abgrenzen. Im Zentrum steht der symbolisch demonstrative Gebrauch von Dingen. Sie kommunizieren Zugehörigkeit und Distinktion.
Das Hamburger GAL-Milieu verdient überdurchschnittlich viel Geld und protzt nicht mit dem Porsche (das würde als primitiv gelten), sondern mit der sündhaft teuren Wohnlage, mit den klimatauglichen Jack-Wolfskin-Jacken und abgasfreien Manufakturrädern. Das arrivierte Milieu, das sich in den ehemaligen Arbeiterstadtteilen wie Schanze und Ottensen breitgemacht hat, trägt seinen postmodernen Lebensstil als verzweifelter Dauersingle oder aufgeklärter Homoehepartner arrogant zur Schau. Das ist das gewisse Etwas-anders-Sein, das den Lebensstil jenes neu-urbanen Milieus kennzeichnet. Genau darauf zielt die Wahlkampfstrategie der GAL ab. Sie ist eine Marke, die zu einem Lebensgefühl passt.
Grün ist nur noch eine Marke
Wie bei der echten Handelsware, etwa einem Smartphone, einem Navi oder einem Paar Markenturnschuhen, zählt auch in der Parteienpolitik längst nicht mehr der echte Gebrauchswert des Produkts. Die enormen Preisunterschiede zwischen dem No-Name-Produkt und dem Markenartikel lassen sich kaum durch die Qualität rechtfertigen. Die Plattformtechnik, das Grundgerüst, ist bei allen fast gleich.
Erst durch die "Vergoldung" werden künstlich die zielgruppengerechten Unterschiede geschaffen: durch Design, Werbung und Verpackung. Den horrenden Preis für die milieutypische Markenjacke zahlt der Kunde nicht für das hochwertige Material, sondern für die suggerierte Fantasie, die der Ware wie ein Fetisch angeheftet wird. Kaufentscheidend ist nicht die Qualität der Ware, sondern bei der Jacke beispielsweise die Landschaft auf dem Plakat, vor dem sie im Laden platziert wird.
So wie Jack Wolfskin vor allem die Fantasie unberührter nordischer Natur verkauft, verkauft nun die GAL die grüne Fantasie eines verantwortungsbewussten, klimakompatiblen, aufgeklärten und kuscheligen Großstadtlebens.
Da über die technischen wie politischen Details ohnehin kaum noch jemand den Überblick behalten kann, wird auf Konkretes klugerweise gleich ganz verzichtet. Dafür sind die Wähler besonders dankbar.
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