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Debatte FlüchtlingshilfeTodeszone Mittelmeer

Kommentar von Hilal Sezgin

Ertrinkenden helfen - diese Selbstverständlichkeit gilt in Europa nicht mehr. Bei der Flüchtlingskatastrophe, nicht bei der Atomkraft, würde eine Ethikkommissiom benötigt.

Sie haben es geschafft: Flüchtlinge im süditalienischen Lampedusa. Bild: dpa

D ie Moralphilosophie unterscheidet gemeinhin zwischen negativen und positiven Pflichten. Die ersten sind bindend, die zweiten nicht. Man darf nicht lügen, muss aber nicht überall herumlaufen, um irgendwelche Wahrheiten zu verkünden. Man darf nicht stehlen, schenken muss man nicht.

Diese meist auf Kant zurückgeführte Unterscheidung, so intuitiv einleuchtend sie ist, kann in der Empirie schnell in Zwickmühlen führen, weil ja der Status quo, in dem wir leben, kein idealer ist. Was zum Beispiel, wenn entscheidende Güter bereits ungerecht unfair verteilt sind: Haben Bewohner ärmerer Länder keinen Anspruch auf "Wohltätigkeit" seitens der anderen, die sich bereits mehr als genug gesichert haben?

Zu dieser Frage gibt es inzwischen natürlich zuhauf Literatur pro und contra, aber bei einer einzigen positiven Pflicht sind sich so ziemlich alle, inklusive Stammvater Kant selber, einig: dass man zur Hilfe verpflichtet ist, wenn sich jemand in Lebensgefahr befindet und man ihn leicht retten könnte. Die in der Moralphilosophie allseits beliebten Beispiele skizzieren hier meist die Situation eines Ertrinkenden. Ihm müssen wir helfen. Welch bittere Ironie des Schicksals.

Bild: privat
HILAL SEZGIN

HILAL SEZGIN ist Journalistin und Schriftstellerin. Kürzlich ist ihr neues Buch erschienen: "Landleben. Von einer, die auszog" (DuMont Verlag). Sie lebt in der Lüneburger Heide.

Aus der Moralphilosophie ist das Beispiel nämlich unvermittelt ins echte Leben ausgewandert. Seit Wochen und Monaten bereits schaut Europa auf ein ganzes Meer voller Ertrinkender, voll unsicherer kleiner Boote. Teils droht noch stärker der Durst als das Ertrinken, Eltern strecken kleine Kinder in die Höhe, damit darüber hinweg fliegende Hubschrauber sie sehen mögen. Wir helfen nicht.

Kaltschnäuzige Europäer

Es ist unglaublich, mit welcher Kaltschnäuzigkeit die zuständigen europäischen Politiker exakt das nicht tun, was Philosophie, gesunder Menschenverstand und schlichter Anstand unisono zu tun gebieten. Bisweilen erheben sich mahnende Stimmen. Der Papst und das diakonische Werk riefen Europa zur Hilfe auf. UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres appellierte "an alle Nachbarregierungen in Nordafrika und Europa, die Grenzen über Land, Luft oder See offen zu halten für Menschen, die aus Libyen fliehen müssen. Alle Menschen, die Libyen verlassen, sollten ohne jegliche Diskriminierung und ungeachtet ihrer Herkunft Unterstützung erhalten."

Nicht nur diverse Oppositionspolitiker, sondern auch Markus Löning von der FDP, Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung, plädierte für ein Zeichen der Mitmenschlichkeit und Solidarität. Mitte März war das. Und was wurde daraus? Innenminister Friedrich verteidigt die Auffassung, dass vorrangig Italien in der Pflicht sei, und macht sich Sorgen um das Schengen-Abkommen.

Bei einem Sondertreffen am 12. Mai berieten die EU-Minister darüber, wie man mit den innereuropäischen Grenzen umgehen solle. Überlegt wird seit einiger Zeit auch, mit welchen Maßnahmen man die Mittelmeer-Patrouillen von Frontex "effektiver" machen kann. Kontrolle und Abwehr, nicht Hilfe stehen ganz oben auf der To-do-List der europäischen Politik.

Nur noch AKW im Kopf

Gleichzeitig ist zumindest Deutschland ganz erfüllt von Begeisterung über das eigene, neu erwachte moralische Bewusstsein. Mit seiner Kanzlerin an der Spitze beobachtet sich das Volk gebannt selbst auf dem Weg in eine Zukunft ohne Atomkraft, von der es in den letzten Jahren immer hieß, sie sei nicht möglich.

Nun geht es anscheinend doch. Aus der einen der beiden Katastrophen der letzten Monate - Fukushima - will man Konsequenzen ziehen und, so weit eben möglich, Verantwortung übernehmen. Aber in dem anderen Katastrophen-Kontext - die arabische Welt brennt, und Massen flüchten - eben noch nicht. Es wirkt, als ob alle progressiven und protestierenden Kräfte in den Kampf gegen die Atomkraft gebunden wären. Aber das kann nicht wahr sein. Jetzt, wo der Castor gleichsam aufs Abstellgleis gesetzt wurde, muss doch noch etwas Engagement für die Ertrinkenden des Mittelmeers drin sein?!

Zugegeben: Die wirkliche moralische Situation fällt deutlich komplexer aus als jedes akademische Beispiel. Beklemmend ist ja nicht allein die Situation der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer, also jener, die es bereits bis nach Nordafrika und in die Boote geschafft haben. Nicht zufällig sehen wir meist junge Männer die Felsen vor Lampedusa erreichen. Alte, Frauen, Kinder und zahlreiche weitere blieben lange vorher auf der Strecke; viele Unglückliche scheitern auf den weiten Wegen an die Küste.

Angenommen, wir wollten eine europäische Flüchtlingspolitik machen, die diesen Namen verdient: Sind wir also nur zur Aufnahme derer verpflichtet, die einen Platz im Boot ergattert haben, oder müssten wir Anlaufstellen in anderen Ländern einrichten? (Möglicherweise.) Wieso eigentlich haben Tausende Deutsche erdbebengeschädigten Japanern ungefragt angeboten, bei ihnen zu Hause unterzukommen, bieten flehenden Afrikanern jedoch nicht einmal einen Platz in einem Flüchtlingswohnheim an? (Vielleicht, weil wir fürchten, dass Armut anstecken kann.) Sind die Unterscheidung zwischen Flucht vor wirtschaftlicher und kriegsbedingter Misere sowie der Begriff der "sicheren Drittstaaten" moralisch haltbar? (Ich glaube nicht.)

Abwehren und vertrösten

Oft wird gesagt, es genüge nicht, Flüchtlinge aufzunehmen, man müsse vielmehr die Bedingungen der Flucht verändern - aber die Zukunftsmusik einer potenziell gerechten Welt tröstet die Ohren der heute Leidenden nicht. Auch das "freie Fluten", das radikale Linke früher proklamierten, ist keine realpolitische Option.

Doch dass man nicht alle Grenzen freigeben will, entlastet nicht von der Verpflichtung, den Rest der Welt politisch mitzubedenken. Hier, nicht bei der Atomkraft, würde eine Ethikkommission benötigt! Denn: Ja, die Situation ist voller Dilemmata und ungelöster weiterführender Fragen. Einstweilen aber ist eins gewiss: Das Abweisen Verdurstender und Ertrinkender vor unser aller Augen, an den Rändern satter Länder, ist ein moralisches Verbrechen.

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Hilal Sezgin studierte Philosophie in Frankfurt am Main und arbeitete mehrere Jahre im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Seit 2007 lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide. Zuletzt von ihr in Buchform: „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs.“ DuMont Buchverlag 2017.

13 Kommentare

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  • V
    vantast

    Die Bedingungen verändern, damit die Leute nicht fliehen müssen: Ist je davon die Rede bei unseren Politikern? Agrarexporte und die Großfischerei abschaffen, die Zusammenarbeit mit Diktatoren beenden, auch wenn deshalb auf Bodenschätze verzichtet werden muß, Importe erleichtern: Hat je einer davon gesprochen? Nein, absaufen lassen ist die christlichere Einstellung, denn wer sich selber hilft, dem wird auch Gott helfen, Frau Merkel? Stattdessen kämpft Ihre Partei für das Überleben von Stammzellen und Zellhaufen.

  • MV
    Marco Vogt

    Ich frage mich gerade, warum die Menschen immer noch aus einem mitterweile super demokratischen Land flüchten, wo doch jetzt alles besser geworden ist durch die Revolution... Oder hat gar keine Revolution stattgefund

  • H
    Hekate

    Liebe Hilal, danke für diesen Artikel, der mir aus der Seele spricht. Wie abgebrüht sind wir denn eigentlich?

    Doch andererseits: was können wir tun? Wir alle haben sicherlich Vorfahren, die irgendwann in den letzten 200 emmigriert sind, aus wirtschaftlichen, oder aus politischen Gründen. Und wir , hier und heute, meinen das Recht zu haben, zu entscheiden, wer rein darf, bzw. dass wir hier unter uns bleiben wollen- haben ja eh schon genügend MigrantInnen. Welch elende Arroganz! Ein paar Krümel Brot für die Welt, gern, da fühlen wir uns multi-kulti, doch Opfer bringen, vielleicht sogar? Um Himmels Willen, so war es nicht gedacht, das sind wir nicht gewohnt, in diesem reichen Land, in dem es allen, na, jedenfalls vielen, gut geht.Alles muss so bleiben, wie es ist, wir haben uns doch so gemütlich eingerichtet....

    Fragen nach dem Sinn des Lebens...

  • V
    vic

    "Das Abweisen Verdurstender und Ertrinkender vor unser aller Augen, an den Rändern satter Länder, ist ein moralisches Verbrechen."

    Richtig!

    Europa leistet sich für die Migrantenabwehr sogar eigens eine hochgerüstete Abwehrtruppe, namens Frontex. Was die im Dunkeln auf hoher See mit Bootsflüchtlingen anstellen, davon werden wir nie erfahren.

  • WH
    westliche Herrenmenschenmoral

    Jahreland heimlich die Opposition finanzieren, danach mit einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg eine Flüchlingswelle lostreten und dann die Opfer noch mit Füßen treten. Mit Moral kommt man hier nicht weit, denn diejenigen, die so etwas anrichten für die ist Moral ein Fremdwort, weil schlicht systemfremd. Für die Herrenmenschen aus dem Westen besteht das Leben aus Erzielung von Maximalprofiten, für sie ist das Töten ein Geschäft, vorher, während und nach dem Krieg. Es tummeln sich hier Rüstungskonzerne, Sicherheitsunternehmen, Söldnertruppen, Banken, Ölkonzerne, Bauindustrie, die europäische Exportindustrie... alle verdienen prächtig. Das Völkerrecht ist eine leere Hülse, die man nur geschäftstüchtig uminterpretieren muß - und Recht hat alleine derjenige, der über Geld und militärische Macht verfügt. Sie setzen sich mit Hilfe einer Medienpropagandafront den Heiligenschein von Demokratie und Menschenrechten auf, um dann umso brutaler die Diktatur der Banken und Konzerne zu errichten. Ihnen wird der Weg ins Herz des libyschen Volkes freigebombt, keine Niederträchtigkeit kann niederträchtig genug sein, um ihre Interessen durchzusetzen - Lügen, Korruption, Raub, Auftragsmord - an ihnen klebt Blut und das Schicksal der Menschen ist Ihnen vollkommen egal.

  • JH
    Johannes Habig

    Frau Sezgins Appell ist wichtig und richtig,aber der Ruf nach einer Ethikkommission ist verfehlt, und zwar m.E. aus zwei Gründen: Ethikkommissionen,hervorgegangen aus der revidierten Deklaration von Helsinki des Weltärzteverbundes von 1975, befassen sich vornehmlich damit, Forschungs-

    projekte, die an Lebewesen durchgeführt werden,u.a. aus ethischer, rechtlicher und sozialer Sicht zu beurteilen. Eine Analyse der Flüchtlingsproblematik nach diesen Kriterien hätte nicht nur eine zynische Komponente, sondern wäre auch nicht in der Lage, die komplexen Zusammenhänge zu erfassen, wie z.B. die Verursachung des Elends auch durch Agrar-Dumping und Ausbeutung der Fischereigründe vor Afrikas Küsten.

    Zweitens gibt es bereits eine Instanz, die gesetzgeberisch handeln könnte(wenn sie denn dürfte!): Der Rat für Menschenrechte der Vereinten Nationen, bestehend aus 47 Mitgliedsstaaten. Er schlug 2007 vor, ein temporäres Asylrecht für Hungerflüchtlinge einzuführen. Das Ergebnis: Die deutsche Diplomatin Anke Konrad lehnte im Namen der Europäischen Union den Vorschlag ab.

  • B
    überrascht

    Na prima Frau Sezgin, bei soviel Moralapostelei wäre es doch angezeigt, dass sie auf ihrem neuen Anwesen in der Lüneburger Heide ein paar Hektar frei machen und ein kleines Auffanglager für Flüchtlinge aus Nordafrika anbieten.

    Aber es ist bestimmt bei ihnen, wie bei allen anderen Zeigefingerwedlern, sobald das Alles in die eigene Nachbarschaft rückt ist es nicht mehr weit her mit dem Verständnis und der Hilfsbereitschaft.

  • MC
    Marcos Cramer

    Sehr guter Kommentar! Für mich ist jeder Politiker, der in dieser Situation mehr über Kontrolle und Abwehr als über humanitäre Hilfe redet für immer unwählbar.

  • F
    f2y

    Der Flüchtlingsstrom wird extrem zunehmen.

    Wenn erst mal in weiten Gebieten Afrikas der Grundwasserspiegel dank unserer "Entwicklungshilfe" (-Brunnenbau) soweit abgesunken ist, dass die Völkerwanderungen aufgrund "Trink"-Wassermangels erst richtig losgehen...

     

    Dann wird uns allen die frühere Kolonialherrschaft auf dem afrikanischen Kontinent uns derbe in den Arsch treten.

  • F
    frei

    Das ewige "Wir"-Geschwurbel dieser Gutbessermenschen a la SEZGIN ist extrem nervtötend. Wen meint sie? 8 Millionen Hartzer sollen z.B. mehr libanesische Großclans aufnehmen, die die Städte schon heute in einen Alptraum verwandeln? Hat sie eine Lösung für die jetzt schon komplett gescheiterte Multikulti-Gesellschaft, die Ghettobildung oder die schleichende Islamisierung incl. Frauenverachtung trotz einer Multi-Milliareden-Integrationsindustrie? Natürlich nicht. Was bleibt, ist dummes Moralsgeschwurbel und organisierte Verantwortungslosigkeit von der Gutverdienerin Szegin, die anscheindend Afrikaner für zu doof hält, ihre Probleme selber zu lösen. Ergo kein Wunder, dass Sarrazin so einen Erfolg hat.

  • T
    tez

    Sie fragen doch nicht im Ernst warum die Europäer lieber einem Japaner Aufnahme gewähren als jemandem, der sich aus einem mittelafrikanischen Bürgerkriegsland bis an die Küste durchgeschlagen hat? Die Leute sind traumatisiert und haben einen Skillset und ein Repertoire an Verhaltensweisen, die so ungefähr das Gegenteil von dem darstellen was einer Integration hierzulande förderlich wäre. Mir ist das moralische Dilemma durchaus bewußt, aber die Aussicht, größere Zahlen dieser Menschen hier aufzunehmen, erfüllt mich wirklich nicht mit Freude.

  • V
    Viktor

    Vielen Dank für diesen Artikel!

     

    Das Niveau auf dem dieses Thema diskutiert wird, ist (bis auf wenige Ausnahmen) wirklich unerträglich.

  • W
    Westberliner

    Beim Lesen des Artikels habe ich Gänsehaut bekommen. Ich freue mich über die Klarheit der Worte.

     

    Danke für diesen Artikel.