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Debatte Faruk SenDie Grenzen des Akzeptablen

Kommentar von Sergey Lagodinsky

Die Ressentiments gegen Juden einst und Türken heute lassen sich durchaus vergleichen. Wer eine solche Debatte tabuisieren will, der schadet letztlich selbst der Integration.

Sergey Lagodinsky

ist Mitglied der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Autor von „Kontexte des Antisemitismus“ (Metropol Verlag 2013).

Es gibt Zeiten, da wollen plötzlich alle Juden sein. Im Russland der Neunzigerjahre war Jüdischsein en vogue, weil die jüdische Herkunft eine Ausreise erleichterte. In Deutschland blüht der Kult um jüdische Großmütter, an die man sich bei hitzigen Debatten und Betroffenheitsgesprächen gerne erinnert - mit einem Gefühl der Zugehörigkeit zum Opferkollektiv lässt es sich hierzulande offenbar leichter leben.

Auch die Minderheiten Europas fühlen sich gerne wie Juden. Während die "Mehrheitsdeutschen" damit beschäftigt sind, mit der Last der Vergangenheit fertigzuwerden, bedeutet für die Minderheiten in Europa jeder Vergleich mit Juden eine Auseinandersetzung mit der Last der Gegenwart. Durch solche Vergleiche reihen sie sich in die Opferkontinuität der europäischen Verfolgungsgeschichte ein, für die das europäisch-jüdische Schicksal paradigmatisch bleibt und dessen mörderische Zuspitzung der Holocaust bildet. Dies ist gewissermaßen ihre Art, sich in die Mehrheitskultur und -geschichte zu integrieren.

Der Leiter des Zentrums für Türkeistudien, Faruk Sen, wagte eine solche Anknüpfung, als er in einer türkischen Zeitung die heutige Diskriminierung von Türken in Europa mit der von Juden im Europa von einst verglich - freilich nicht, ohne dabei auf die Unterschiede in "Ausmaß" und "Erscheinungsformen" zu verweisen. Sein Vergleich wurde trotzdem aufs Schärfste kritisiert und als "in besonderer Weise inakzeptabel" (so NRW-Integrationsminister Armin Laschet) gewertet. Sen wurde zwangsbeurlaubt und muss höchstwahrscheinlich seinen Posten räumen. Die Antwort auf die Frage, was denn genau an seinem Vergleich "inakzeptabel" sein soll, bleiben die Kritiker Sens indes schuldig. Ebenso offen bleibt die Frage, wer genau solche Vergleiche nicht akzeptiert.

Von jüdischer Warte aus betrachtet, erscheinen Vergleiche zwischen einzelnen Episoden der europäisch-jüdischen Geschichte und dem Umgang mit den heutigen Minderheiten in Europa meist als ein heikles, aber keineswegs skandalöses Unterfangen. Die Singularität des Holocaust steht außer Frage. Doch niemand beharrt auf der Singularität von jüdischen Diskriminierungserfahrungen, davor und danach. Dass zahlreiche jüdische Organisationen weltweit für Menschen- und Bürgerrechte eintreten, speist sich ja gerade aus der Sorge, dass sich die eigene Diskriminierungserfahrung unter anderen Minderheiten wiederholen könnte . Dass Vertreter des Zentralrats der Juden in Deutschland genauso wie jüdische Stimmen aus der Türkei ihr Unverständnis über die Reaktionen auf Sens Vergleich geäußert haben, liefert dafür eine Bestätigung.

Der Verdacht liegt nahe, dass die ablehnenden Reaktionen auf Sen nichts mit den Befindlichkeiten der Juden, sondern mehr mit den Befindlichkeiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu tun haben. Und mit den Befindlichkeiten der deutschen Politiker. Eine "Verkennung der deutschen Integrationspolitik" warf Landesminister Armin Laschet Faruk Sen beleidigt vor - ganz so, als müsste der Wissenschaftler die Bemühungen der Regierenden durch eine bedingungslose Loyalität anerkennen.

Der Sturm der Entrüstung, den Sen ausgelöst hat, offenbart tiefer gehende Probleme. Mit einer Arroganz der Geläuterten glauben wir Deutsche gerne, alles Nötige aus unserer Vergangenheit längst gelernt zu haben, und wollen uns von niemandem das Gegenteil vorwerfen lassen - erst recht nicht auf Türkisch! Dabei bleibt einiges auf der Strecke. So zum Beispiel die Erkenntnis, dass man aus der Geschichte immer wieder und immer etwas Neues lernen kann. Und dass diese Geschichte nicht 1933 anfängt und 1945 endet.

Die Erkenntnis, dass die Diskriminierungsgeschichte der europäischen Juden mehr als eine Geschichte der Vernichtung ist, scheint durch unsere intensive Auseinandersetzung mit dem Holocaust verschüttet gegangen zu sein. Die unfassbaren Ausmaße des Völkermordes drohen unseren kritischen Blick zu verbauen für die Alltäglichkeit antijüdischer Ressentiments in der Vergangenheit und in der Gegenwart. Wir lagern den antisemitischen Völkermord in die Kategorie des Unmenschlichen aus und nehmen damit dem Antisemitismus jeglichen Bezug zu uns und unserem Alltag. Der Vorwurf des Antisemitismus wird zum Vorwurf einer Vernichtungsabsicht. Alles, was die Hürde dieser Monstrosität nicht zu nehmen vermag, wird ausgeblendet.

Kein Wunder also, dass Sen über die Diskriminierungsgeschichte der Juden in Europa redet, und wir ihn über die Vernichtungsgeschichte der Juden in Deutschland sprechen hören. Er ist sich dieser Wahrnehmung durchaus bewusst und sagt zu Recht, dass er einen solchen Vergleich in einer deutschen Zeitung nie gezogen hätte. Dies zeugt nicht von seiner "Doppelzüngigkeit", wie ihm Kritiker wie Seyran Ates vorwerfen, sondern vielmehr von Sens Sinn für den innerdeutschen, gesellschaftshistorischen Kontext.

Auch in diesem Kontext brauchen wir einen Raum, in dem sich die Frage nach der Vergleichbarkeit zwischen Vorurteilsmustern von früher und von heute stellen lässt. Wer Details über den gesellschaftlichen Umgang mit Juden und dem Judentum im 19. und im frühen 20. Jahrhundert liest, der entdeckt unangenehme Parallelen zu heutigen Debatten: vom Vorwurf der "doppelten Loyalitäten" und Diskussionen um die Grausamkeit und das Verbot ritueller Schächtungen bis hin zum deutschen Strafrecht, das es untersagt, sich durch Gruppenbeleidigungen individuell betroffen zu fühlen. Angesichts dessen ist die Frage nach ähnlichen, wenn auch nicht identischen Wahrnehmungsmustern von Juden damals und Türken heute nicht völlig aus der Luft gegriffen.

Kürzlich veranstaltete die Universität Tel Aviv eine Konferenz, bei der sich deutsche und israelische Forscher über genau diese Fragen austauschten. Die Thesen einiger (zumeist israelischer) Forscher, welche die Ressentiments gegen die Juden im 19. Jahrhundert mit denen gegen türkischstämmige Einwanderer im heutigen Europa verglichen, konnte man durchaus als zu weitgehend empfinden. Keiner indes empfand sie als "inakzeptabel". Wenn man einen umstrittenen, aber zweifellos verdienten Forscher wie Faruk Sen wegen eines Vergleichs zwischen der Diskriminierungsgeschichte von Juden und dem Diskriminierungsalltag von türkischen Europäern entlässt, tabuisiert man eine wichtige Debatte.

Im Rahmen dieser Debatte muss auch darauf hingewiesen werden, dass eine reine Selbststilisierung zum passiven Opfer und eine Einreihung in die Diskriminierungsgeschichte seitens der türkischstämmigen Deutschen nicht wünschenswert sein kann. Inakzeptabel ist es aber, den Vergleich von Diskriminierungserfahrungen tabuisieren zu wollen, um Befindlichkeiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu schützen. So verkennt man, was der eigentliche Zweck der deutschen Integrationspolitik sein sollte: die ernsthafte Suche nach einer gemeinsamen Zukunft ohne Diskriminierungen.

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4 Kommentare

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  • IL
    Ian Leveson

    Sinngemäss hat einen Religionswissenschaftler Anfang der 1980'er Jahren geschrieben, dass die Betrachtung der Juden in Europa war, dass sie im Widerspruch zum Europäischen lebten und die der Muslimen, dass sie den äusseren Feind und Gefahr darstellten. Gewissermassen, als die Juden meistens sich sekularisiert und Israel als Nation neben den anderen "Völker" etabliert wurde, und frommen, religiöslebenden Muslimen nach Europa einwanderten wurden die Rollenbetrachtungen vertauscht. Muslimen werden heute betrachtet auch als im Widerspruch zur Europäischen Normen lebenden, und "Zionist" Israel als äusseren Gefahr zum Weltfrieden hochstirilisiert (siehe Meinungsumfragen der letzten Jahren). Der Subtext dieser Artikel, für diejenigen, die ihn hören möchten, ist, dass Juden, besonders fromme Juden die ernst nach dem Jüdischen Gesetz leben, immer noch alltags- und Institutionalisierte Diskriminierung vergleichbar die der Muslimen erfahren (nicht nur in Deutschland). Dieser Artikel gehört zur Pflichtlekture für Politiker.

  • MY
    Murat Y.

    Sehr geehrter Herr LAGODINSKY, vielen Dank für die interessante Beleuchtung der Angelegenheit. Solch eine sachliche und historische Auseinandersetzung zur "Problematik" habe ich nahezu in allen anderen Kommentaren in der Presse vermisst. Die Befindlichkeiten der türkischstämmigen Bürger finden in der deutschen Öffentlichkeit selten Beachtung. Man spricht lieber über Türken, als mit ihnen. Wenn sich eine Minderheit ausgegrenzt fühlt, dann sollte man dies ernst nehmen und sich damit auseinandersetzen, und die Diskussion nicht gleich abwürgen bzw. erst gar nicht entstehen lassen. Vor dem Hintergrund, dass Faruk Sens Äußerungen zur "Unterstützung" der Juden in der Türkei dienten, finde ich die Reaktionen hier hinsichtlich Schlösser austauschen und eMail-Konten sperren etc. maßlos überzogen. Eine sachliche, inhaltliche Diskussion zu seinem Beitrag wäre sinnvoller gewesen. Kündigen kann man am Ende immer noch.

  • CS
    Cetin Senol

    Vielen Dank Herr Lagodinsky! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie gut es mir tut, der ich in der Türkei geboren, hier aufgewachsen, und seit über 12 Jahren den deutschem Pass habe, so etwas zu hören, nach all den Fragen, warum ich denn nicht nach Hause zurückkehre, wenn es mir hier nicht gefiele.

    Gerade heute wieder bekam ich diesen Spruch zu hören - von einem Sozialpädagogen!

    Erst meine Frage, ob er mich, der ich Deutschland genauso wie er als mein Land, als mein Zuhause betrachte und darum hier bliebe trotz all meiner Kritik an Deutschland hier zu bleiben gedenke, ob er mich ich in die Gaskammer schicken wird, wenn ich seiner Aufforderung, "nach Hause" zu gehen, nicht Folge leiste, erst diese Frage brachte ihn zur Besinnung.

    Kritik an Deutschland von jemandem, der einen türkischen Namen trägt, zieht unweigerlich das "RAUS HIER!" nach sich, so als hätte sich nie etwas geändert. Und nein, dieses "RAUS HIER!" kommt keineswegs von den Rändern unserer Gesellschaft, sondern von seiner Mitte. Keiner, der keinen türkischen Namen trägt, wird die gleiche Erfahrung machen wie wir, die wir sowohl unseren Namen als auch unseren kritischen Blick uns bewahrt haben, doch jedem steht es frei, diesen Selbstversuch zu machen, sich als Türke auszugeben und Deutschland zu kritisieren. Da interessiert dann auch der deutsche Pass nicht mehr, man bekommt als Quittung immer wieder das gleiche zu hören: "RAUS HIER!"

  • KN
    Karl-Stephan Neufeldt

    Ich kann mich des Eindrucks nicht erwähren, daß der eigentliche Anlaß für die Entrüstung über den Vergleich in einem falschem Schnellschuß zu suchen ist.

    Ich habe zwar nicht explizit danach gesucht, aber es hat etwa eine Woche gedauert bis ich aus den Medien erfahren habe, daß der Vergleich sehr wohl differenziert vorgetragen wurde.

    Daraus folgt meiner Meinung nach in der Tat, daß sich die "Sittenwächter" ebenso differnziert zu Ihren bisherigen Kommentaren zu äußern und gegebenfalls, zu entschuldigen haben.

    Der andere Eindruck dessen ich mich nicht erwähren kann ist allerdings, daß dieser Artikel nicht dazu dienen soll diese Frage zu klären, sondern ebenfalls der Lust den moralischen Zeigefinger zu heben frönt.