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Aus taz FUTURZWEI

Debatte Energiesparen Mehr als Überleben

Alle reden über Energiesparen und das ist in der derzeitigen Lage auch richtig so. Aber die Lösung der Klimakrise muss nicht nur das Vermeiden einer Katastrophe sein, sie kann zu einer positiven Utopie werden.

Foto: Max Slobodda

Von ANDERS LEVERMANN

Die Klimakrise zu vermeiden ist das erklärte Zukunftsziel vieler junger Menschen. Was haben wir Alten da angerichtet, wenn die Utopie der jungen Generation nur noch die Verhinderung einer schleichenden Katastrophe ist. Eine Utopie, die vom schieren Überleben träumt. Grundsätzlich reden derzeit die meisten über Energiesparen, und das ist in der derzeitigen Lage auch richtig so. Aber mittelfristig brauchen wir eine andere Diskussion. Tatsächlich kann die Überwindung fossiler Brennstoffe viel mehr sein als Sparen und Überleben. Sie kann uns in eine geradezu fantastische Zukunft führen. Wenn wir es richtig machen, bedeutet die Lösung des Klimaproblems nicht nur, schreckliche Risiken von Wetterextremen und Meeresspiegelanstieg zu vermeiden, sondern sie kann bedeuteten, dass wir als Menschheit tatsächlich im Einklang mit unserem Planeten leben können. Dafür müssen wir unsere komplexe Welt als Einheit denken. Wir müssen verschiedene Stränge unserer Gesellschaft verbinden: den wundervollen Überfluss an erneuerbarer Energie, die für viele beängstigende Zunahme der Automatisierung, und die langweilige Notwendigkeit des Recyclings.

Die Grundlage ist Physik: Ähnlich wie Mikroplastik wird fossiles Kohlendioxid, sobald es freigesetzt wurde, für viele Menschenleben in der Atmosphäre verbleiben. Wenn wir die Temperatur des Planeten stabilisieren wollen, müssen wir also komplett aufhören, Kohle, Öl und Gas zu verbrennen, um die Treibhausgasemissionen zu stoppen. Das ist eine physikalische Wahrheit und sie gilt unabhängig von der Temperatur, die man stabil halten möchte. Sie gilt, wenn wir die Obergrenze des Pariser Klimaabkommens von zwei Grad einhalten wollen, wie von den Regierungen der Welt beschlossen; sie gilt auch, wenn wir die 1,5 Grad über vorindustriellem Niveau nicht überschreiten wollen, wie es, zum Beispiel, Fridays For Future fordern. Diese Wahrheit gilt sogar, wenn man rücksichtslos auf vier oder sogar fünf Grad Temperatur-Erhöhung zielt, was für viele Menschen auf dem Planeten gefährlich wäre und unsere Demokratien wahrscheinlich an den Rand des Zusammenbruchs treiben würde. Auch wenn man eine solche enorme Erwärmung zulassen würde, müsste man zu einem bestimmten Zeitpunkt auf netto null Emissionen.

Die Atomenergie wird uns hierbei nicht wesentlich helfen. Denn Uran ist eine endliche Ressource und wer Kernkraftwerke zu einem signifikanten globalen Player in der Energieversorgung machen möchte, der muss jedem, der Strom haben soll, auch Plutonium geben. Und das wollen selbst die Laufzeitverlängerungsbefürworter nicht, denn von dort ist der Weg zu Nuklearwaffen sehr kurz.

Das bedeutet, dass wir – früher oder später - unsere gesamte Energieerzeugung auf erneuerbare Technologien stützen müssen. Möglich ist dies. Das haben zahlreiche Studien gezeigt und ist erst kürzlich wieder im aktuellen Bericht des Weltklimarats zusammengefasst worden.

Ein häufiges Argument gegen ein Energiesystem, das im Wesentlichen auf Wind- und Sonnenenergie basiert, betrifft die Schwankungen im Wetter. Da ist zum Einen die Unvorhersehbarkeit des Windes, der durch die Turbinen weht, und zum Anderen die der Sonneneinstrahlung, die die Solarmodule erreicht. Dieser Herausforderung kann auf verschiedene Weise begegnet werden.

»WENN WIR DIE ÜBERSCHÜSSIGE ENERGIE AUS DEM ERNEUERBAREN-SYSTEM HABEN, KÖNNEN WIR SIE FÜR RECYCLING VERWENDEN.«

Anders Levermann

Zusammenschluss von Nachbarländer zu Energiepakten

Zunächst mal hilft es, wenn das Stromnetz viel Fläche abdeckt, um Wind- und Sonnenstrom über Ländergrenzen hinweg zu integrieren. In Europa wird es wegen des Jetstreams immer irgendwo Wind geben. Manchmal weht er hoch im Norden Skandinaviens und manchmal reicht er bis nach Spanien. Aber er bläst immer, solange sich unsere Erde um ihre Achse dreht. Auch das ist schlicht Physik. Wettersysteme haben typischerweise die Ausdehnung eines mittelgroßen Landes wie Frankreich oder Deutschland. Wenn also an einem Ort ein Tiefdrucksystem Wolken erzeugt, gibt es in der Nähe ein Hochdrucksystem, das die Wolken wegdrückt und einen klaren Himmel für Solarenergie bietet.

Das heißt, wir brauchen pragmatische Energielösungen für Regionen von der Größe der Europäischen Union. Die Vereinigten Staaten sind groß genug für ein eigenes Lösungspaket, aber sie könnten erwägen, Kanada und Mexiko in ihr Netz aufzunehmen. China ist auch groß genug. Wenn sich befreundete Nachbarländer auf Energiepakte einigen würden, würde uns das ein gutes Stück in Richtung Energie- und Klimastabilität bringen und wahrscheinlich wäre das auch nicht schlecht für die Stabilität eines friedlichen Zusammenlebens.

Die zweite Komponente einer erneuerbaren und stabilen Lösung ist die Energiespeicherung. Das können traditionelle Speicher etwa in Pumpwasserkraftwerken sein oder smarte aber energieaufwendige Lösungen, bei denen aus der Energie zunächst Wasserstoff oder Methan als gasförmiger oder flüssiger Brennstoff erzeugt wird. Die Kombination dieser beiden Komponenten reicht bereits und ermöglicht uns den Aufbau einer nachhaltigen Energieproduktion, die stabil und klimaneutral ist. Wir können damit eine Klimakatastrophe vermeiden und das ist großartig.

Aber was, wenn wir noch mehr tun könnten?

Wenn wir genügend Wind- und Sonnenenergie erzeugen, um eine stabile Stromversorgung zu gewährleisten, wird es häufig auch mal passieren, dass zu viel Strom im Netz ist. In diesen Zeiten – und nur in diesen Zeiten, natürlich nicht immer – wird Strom einen negativen Preis haben. Das passiert schon jetzt gelegentlich für sehr kurze Momente. Das bedeutet, dass der Strom dann weniger als Nichts kostet. Es bedeutet, dass Sie in diesen Momenten bezahlt werden, wenn Sie Strom verbrauchen, weil Stromgeneratoren ihn loswerden müssen, um eine Explosion zu verhindern.

Wir können diese überschüssige Energie verwenden, um sie zu speichern und später zu verwenden – wie oben beschrieben – aber die Umwandlung der Energie hin und her wird mit einigen Verlusten verbunden sein.

Zusätzlich oder sogar alternativ könnten wir damit aber auch Materialien recyceln. Richtig viel Material.

Wir müssen dahin kommen, dass wir keine Rohstoffe mehr abbauen

Denn selbst wenn wir das Klimaproblem lösen, werden wir immer noch ein massives Recyclingproblem haben. Viele Ressourcen unseres Planeten sind begrenzt und das bedeutet, dass wir sie irgendwann in Ruhe lassen müssen. Und selbst bei nicht knappen Materialien ist schon heute der Müll ein großes Problem. Das bedeutet, dass im Prinzip alles, was wir produzieren, aus Materialien gebaut werden muss, die wir zuvor schon einmal verwendet haben. Wir müssen dahin kommen, dass wir keine Rohstoffe mehr abbauen. Dass wir eine echte Kreislaufwirtschaft haben. Europa würde nicht nur unabhängig von den fossilen Brennstoffen Russlands und Saudi-Arabiens, sondern auch von den Rohstoffen Chinas. Seltene Erden, zum Beispiel, die vor allem in China vorkommen, würden recycelt statt neu abgebaut und importiert. Die wirtschaftliche Vernetzung würde nicht aufgehoben, aber verringert. Mit wirtschaftlicher Unabhängigkeit bekäme demokratische Souveränität wieder mehr Gewicht und Wahlen bekämen wieder mehr Bedeutung.

Eine solche zyklische Produktionslinie erfordert enorme Energiemengen, denn um etwas wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu bringen, ist nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ein Energieaufwand erforderlich, und in diesem Fall ein großer. Das gilt allgemeine und ist eine fundamentale physikalische Erkenntnis: ohne Energiezufuhr erhöht sich die Unordnung, die Entropie, in einem System. Nur mit Hilfe von Energie kann der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt werden. Oder anders ausgedrückt: ohne Energie wird es immer nur ein Downcycling, aber kein Recycling geben.

»WENN WIR GENÜGEND WIND- UND SONNENENERGIE ERZEUGEN, WERDEN SIE FÜR STROMVERBRAUCH BEZAHLT.«

Anders Levermann

Wenn wir die überschüssige Energie aus dem Erneuerbaren-System haben, können wir sie zum Recycling verwenden. Wenn dies in automatisierten Recyclingfabriken geschieht, könnten diese Fabriken spontan dem Strommarkt folgen. Recyclingmaschinen würden genau zu den Zeiten laufen, in denen zu viel Energie aus Wind und Sonne erzeugt wird, und in anderen Zeiten nicht. Recycling würde nicht nur durch das recycelte Material Geld erwirtschaften, sondern zusätzlich durch den negativen Strompreis.

Volkswirtschaftlich wird dieser Preis von den Industrien und Haushalten bezahlt, die den Strom dann kaufen, wenn sie ihn brauchen, und weniger flexibel sind. So funktioniert der Markt. Aber wir würden eine Anreizstruktur schaffen, die nicht nur die Klimakrise löst, sondern uns erlaubt, die Nachhaltigkeitskrise insgesamt ernsthaft in den Griff zu bekommen. Am Ende können wir vielleicht aufhören, unseren Planeten auszubeuten und nur das verwenden, was wir bereits in unser System gezogen haben, plus nachwachsende Materialien.

Oder mit anderen Worten, die Menschheit könnte im Einklang mit ihrem Heimatplaneten leben, und wir könnten unserer jungen Generation eine neue Utopie anbieten: eine Utopie der Fülle statt des Verzichts: Was für eine wunderbare Welt das sein könnte.

ANDERS LEVERMANN ist Physik-Professor und leitet den Bereich Komplexitätsforschung am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Er trägt seit fünfzehn Jahren zu den Berichten des Weltklimarats bei und publiziert wissenschaftlich über die Grundlagen, die Folgen und die Lösungen des Klimaproblems.

Dieser Beitrag ist im Dezember 2022 in taz FUTURZWEI N°23 erschienen.