Debatte EU: Irland als Chance
Das irische Nein zwingt zu einer Debatte: Welches Europa wollen wir? Die nächste Wahl zum EU-Parlament sollte mit einer Volksabstimmung zu dieser Frage verbunden werden.
Wie weiter nach dem irischen Nein zum Lissabonner Vertrag? Man könnte Angela Merkels jüngste Regierungserklärung als Ausdruck eines hilflosen "Weiter so!" nehmen. Aber hinter der doppelten Versicherung, man werde das irische Votum ernst nehmen, aber mit dem Ratifizierungsprozess für den Vertrag fortfahren, steckt eine klar erkennbare Methode: Erpressung.
Für die Annahme des Vertrags ist Einstimmigkeit vorgesehen. Das kann nichts anderes bedeuten, als dass das Vertragswerk gescheitert ist, wenn auch nur ein Mitgliedsland der EU seine Zustimmung verweigert. Worum es den Jasagern jetzt geht, ist, eine Droh- und Druckfront aufzubauen. Das Ziel ist die Wiederholung des irischen Referendums noch vor der Wahl zum Europaparlament im nächsten Jahr. "Europa", so Angela Merkel, "kann sich keine Reflexionsphase leisten."
Folgt man der Erpressungslinie, so ist diese Aussage nur logisch. Keine Atempause, kein Innehalten. Vor allem aber keine Debatte über eine mögliche Alternative, "kein Kuhhandel". Dabei schreit das irische Referendum nach einer Bilanzierung des bisherigen Wegs, die Institutionen der EU einer veränderten Wirklichkeit anzupassen.
Eine solche Bilanz würde erweisen, dass nach dem Scheitern des Verfassungsentwurfs durch die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden seitens der politischen Machteliten in der EU alles Erdenkliche getan wurde, um eine gesellschaftliche Debatte über die Inhalte der Reform gar nicht erst aufkommen zu lassen. Insofern ist das Dickicht des Lissabonner Vertragswerks samt seinen Zusätzen und Protokollen ein getreuliches Abbild der Ratifizierungsmethode mittels umstandsloser parlamentarischer Absegnung in den einzelnen Mitgliedsländern. Was jetzt nottut, ist das exakte Gegenteil der Empfehlung der deutschen Kanzlerin - eine Denkpause nämlich, die der Verständigung über die grundlegende Frage dient: Wozu brauchen wir eine Europäische Union, und, dem folgend, wie soll sie künftig aussehen?
Für eine europäische Union mit einem funktionsfähigen Entscheidungsmechanismus sprechen im Wesentlichen vier Gründe, die sämtlich mit der möglichen Stellung der EU in der Weltgesellschaft zusammenhängen. Erstens eröffnet die Europäische Union die Chance, in der globalen Auseinandersetzung zwischen der industrialisierten und der armen Welt ihre Verhandlungsmacht für verbesserte Chancen der armen Staaten einzusetzen. Die EU kann zweitens ihr Gewicht bei der Aushandlung von Verträgen in die Waagschale werfen, die international verbindliche Normen für die Rettung der Umwelt und den Klimaschutz festlegen. Sie kann, drittens, verhindern, dass in den internationalen Beziehungen das Wolfsgesetz siegt, indem sie für die Stärkung des Völkerrechts und der internationalen Institutionen der Prävention und Streitbeilegung eintritt. Und sie kann viertens, wie beim Kampf um die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs geschehen, der "Kultur der Straflosigkeit" bei schweren Menschenrechtsverletzungen entgegentreten.
Diese Begründung sieht sich sofort dem Vorwurf ausgesetzt, an der Realität der EU vorbeizugehen. Zeugen die bisherigen Verträge wie auch die Praxis der EU-Institutionen nicht allesamt von einer Festlegung auf die Grundsätze eines expansiven Kapitalismus, auf Abschottung gegenüber der armen Welt, auf Sozialabbau und Überwachung der Bürger innerhalb der Union?
In der Tat legt auch der Lissabonner Vertrag die Union in ökonomischer Hinsicht auf neoliberal definierte, kapitalistische Marktbeziehungen fest. Dabei müsste es die Aufgabe eines Grundlagendokuments sein, die Ziele, nicht aber die Mittel zu ihrer Erreichung festzulegen. "Ein Gemeinwesen", so Jürgen Habermas in seinem jüngsten Aufsatz zum Thema, "darf nicht von vornherein so konstruiert sein, dass schon in der Anlage des Gebäudes Alternativen zum vorherrschenden Marktliberalismus ausgeschlossen werden". Parallele Festlegungen finden sich auch in anderen Bereichen des Vertrags - so etwa in der umstandslosen Verpflichtung aller EU-Mitglieder, künftig zur Aufrüstung beizutragen.
All diese Einwände als berechtigt vorausgesetzt, müssen die Anhänger eines prinzipiellen Nein zu einem unter kapitalistischen Bedingungen föderativ zusammengeschlossenen Europa sich folgende Frage stellen: Werden die Kampfbedingungen für eine auf die Weltgesellschaft orientierte, sozial und demokratisch eingestellte, ökologisch verantwortliche Politik sich in einer solchen Föderation verbessern oder verschlechtern? Die Antwort darauf ist eindeutig: Sie verbessern sich. Sie eröffnen Chancen der Kooperation der europäischen Gesellschaften, sie dynamisieren die je nationalen Auseinandersetzungen, die auch künftig die Grundlage der gesellschaftlichen Entwicklung bleiben werden. Darüber hinaus begünstigt ein föderativer Zusammenschluss auch die Zusammenarbeit zivilgesellschaftlicher Initiativen in Europa.
Ohne ein prinzipielles Ja zur europäischen Föderation wird es gerade den europäischen Linken nicht möglich sein, einen klaren Trennungsstrich zu den reaktionär-nationalistischen Kräften zu ziehen, die - wie im Fall Irlands - gerade die zivilisatorischen Fortschritte, die durch den Vereinigungsprozess befördert werden, fürchten. Werden sich die linken und ökologisch eingestellten Kräfte wirklich auf den europäischen Kampfboden einlassen? Jetzt wäre die Chance einer gesamteuropäischen Debatte gegeben. Aber ob sie ergriffen wird, ist zweifelhaft. Was wurde nicht alles seitens der Linken nach dem Sieg des Nein im Verfassungsreferendum in Frankreich und den Niederlanden an europäischen Projekten vorgestellt, die das Ja zu einem fortschrittlich vereinten Europa befestigen sollten - und wie wenig davon wurde eingelöst, allen Anstrengungen von Attac, Friedensinitiativen und Sozialforen zum Trotz. Offenbar nistet der Nationalismus doch mehr als vermutet im "Volk der Linken".
Diese Einschränkung im Kopf, sollte es doch möglich sein, die gegenwärtige "große Unruhe unter dem Himmel" zu nutzen, um für die so wünschenswerte Debatte ein politisches Ziel und einen praktikablen Zeitrahmen festzulegen. Von europäischen Grünen bis zu Jürgen Habermas wird vorgeschlagen, die Wahl zum europäischen Parlament im Juni nächsten Jahres mit einer simultanen Volksabstimmung in allen europäischen Ländern zu der Frage zu verbinden, welches Europa wir wollen. Der Versuch lohnt sich - allein schon wegen des Klärungsprozesses hinsichtlich der Fragestellung.
Politisch hätte das Projekt einer Volksabstimmung eine starke Legitimationsgrundlage. Eine solche Abstimmung wäre ein Rekurs, ruft sie doch den Träger der Volkssouveränität, eben das Volk, auf, über zentrale Fragen der künftigen Organisation des europäischen Gemeinwesens sein Urteil abzugeben. Auch wenn die Realisierungschancen gering sind, als Kontrastprogramm zur beschlossenen Regierungslinie taugt der Referendumsvorschlag allemal.
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