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Debatte Comeback des StaatesLebenslang auf der Baustelle

Kommentar von Franz Walter

Der Staat ist per se kurzsichtig. Will er die Zukunft planen, wird das zum Problem. Denn die Verantwortung für notwendige Paradigmenwechsel bürdert er den Bürgern auf.

S o alle zwanzig bis dreißig Jahre schlägt das Pendel in die entgegengesetzte Richtung aus. Von solchen historischen Rhythmen innergesellschaftlicher Einstellungsmuster sind jedenfalls eine Reihe kluger Interpreten der Geschichte überzeugt. Auf Phasen des Individualismus folgen Passagen kollektiver Orientierungen. Zeiten liberaler Wirtschaftsideen werden von Abschnitten etatistischer Antizipations- und Regelungsversprechen abgelöst. Der dominierende Charakter im jeweiligen Zyklus produziert in Folge rigider Einseitigkeiten regelmäßig Probleme und Defizite, auf welche die nachfolgende Ära ähnlich überschüssig, doch eben in die andere Richtung hin antwortet.

uni göttingen

Franz Walter ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen. Im Frühjahr hat er mit Tim Spier das Buch "Die Linkspartei. Zeitgemäße Idee oder Bündnis ohne Zukunft?" beim VS Verlag (26,90 Euro) herausgegeben. Foto: uni goettingen

Derzeit erleben wir das Ende der goldenen Jahre neuliberaler Gesellschaftsinterpreten. Und bezeichnenderweise kehrt der Staat als Modernisierungsagens und vorsorgende Rationalisierungsinstanz zurück in die Debatte der Zeitdiagnostiker. Déjà vu, möchte man da gern ein bisschen seufzend sagen. Denn so erlebte man es bereits in den 1960er Jahren.

Nach zwei Jahrzehnten neuliberaler Erhard-Politik brach die große Zeit der Planer, Gestalter und Gesellschaftsarchitekten an. Natürlich galt auch seinerzeit die Bildung als Schlüssel für die Gesellschaftsreform. Und das entscheidende Passepartout für den technischen, wirtschaftlichen und dadurch bedingt auch sozialen Fortschritt war in den frühen 1960er Jahren die Atomenergie. Jeder, der progressiv und "zukunftsorientiert" dachte, setzte auf diese Energiequelle. Kaum jemand zweifelte in diesem Modernitätsjahrzehnt daran, dass die Atomenergie das probate Mittel schlechthin für eine weitsichtige technologische Vorsorgepolitik sein würde.

Und keine Partei begeisterte sich stärker für den Bau von Atomkraftwerken als die Sozialdemokraten, die sich davon fortwährendes wirtschaftliches Wachstum und infolgedessen unversiegbar sprudelnde materielle Quellen für Wohlstand und sozialen Ausgleich in einer Gesellschaft der sozialen Demokratie versprachen. Auch Erhard Eppler, später bedeutender Wachstumskritiker in der SPD, folgte in den 1960er Jahren dieserm Paradigma. "Mit leisem Grausen", so schreibt er in seiner Autobiographie, erinnere er sich, wie er in diesem "Jahrzehnt des technokratischen Größenwahns" für Roboter und schnelle Brüter schwärmte. Wie Eppler hatte auch sonst kaum jemand im Jahr 1965 daran gezweifelt, dass die Atomenergie das probate Mittel schlechthin für eine weitsichtige technologische Zukunftspolitik sein würde.

Und da die Philosophie der Machbarkeit und der systematischen Gestaltung den Zweifel und die Ambivalenz gern ausblendet, kamen Alternativen gar nicht erst zum Zug. Im Rausch bombastisch subventionierter Atomvorsorge wurde beispielsweise die staatliche Förderung der Mikroelektronik stiefmütterlich betrieben, so dass Deutschland - gerade wegen seiner Vorsorgepolitik - auf diesem Gebiet drastisch zurückfiel.

Nun ist natürlich eine Philosophie der Zukunftsplanung nicht rundum abwegig. Vorsorge für das Morgen und Übermorgen zu treffen - Menschen pflegen seit ewigen Zeiten auf diese Weise zu handeln. Indes: die Tücke liegt im Antizipationsbegehren von Staatlichkeit. Vor allem der moderne Sozialstaat des 19./20. Jahrhunderts hat nicht nur nachgesorgt. Geradezu als Musterbeispiel für Vorsorgewohlfahrtsstaatlichkeit kann die große Rentenreform von 1957 gelten, mit der in der Tat ein uraltes Problem der Menschen - die chronische Unsicherheit und Armut im Alter - gelöst wurde. Kaum eine Reform des modernen Sozialstaats dürfte jemals populärer gewesen sein als die Garantie auf einen materiell gesicherten Ruhestand.

Doch gerade diese Vorsorgereform der Alterssicherung durch das Solidarprinzip gilt heute als problematisch. Die gegenwärtigen Zukunftsreformer begründen ihre Ablehnung dieser "Jahrhundertreform" damit, dass man eben mit Aussicht auf Ertrag in die Zukunft, nicht sinnlos in die Vergangenheit investieren müsse. Salopper ausgedrückt: Die unproduktiven Rentner kosten zu viel. Die gängige Deutung ist: Die große Rentenvorsorge von 1957 ging im Laufe der Zeit zu Lasten der Jüngeren. Daher wird die Zukunftsreform der Adenauer-Jahre nun fünfzig Jahre später ihrerseits mit dem Verweis auf die Zukunftssicherung reformiert.

Und man kann sich bereits jetzt sicher sein, dass diese gegenwärtige Reform der früheren Reform in spätestens zwanzig bis dreißig Jahren zu dem gigantischen Problem von Altersarmut zumindest im unteren Drittel der Bevölkerung führen wird. Daher steht abermals die Reform der Reform an: Die spätere Zukunft wird sich gegen die vorangegangen Zukunftsplanung zur Wehr setzen. Das sind die vielzitierten nicht-intendierten Negativfolgen gutgemeinter Absichten. Die Idee jedenfalls, dass der Staat die Probleme rechtzeitig aufspürt und Zukunft gezielt, systematisch, planvoll gestaltet, ist alles andere als neu - und ihre heiklen Implikationen mittlerweile gut bekannt.

Und doch: Die säkulare Heilsutopie des systematisch-effizienten Antizipation birgt keine große Lernelastizität. Denn im Rationalitätsversprechen steckt immer der große Plan. Insofern es Zufall ist, dass derzeit gerade bei den Profis der Politik Begriffe wie "Baustelle", "positionieren", "aufgestellt sein" lustvoll kursieren. In diesem Verständnis wird Gesellschaft zur weitflächigen Großbaustelle, auf der jeder an seinem Platz die ihm zugewiesene Funktion exakt auszufüllen hat. Es herrscht nachgerade ein Zwang zur unentwegten Optimierungsanstrengung aufgrund der "fördernden" Sozialinvestitionen des Staates. Wer zu dieser Optimierungsleistung im Förder- und Forderstaat nicht in der Lage ist, hat das Nachsehen und wird mit Nachtsicht kaum rechnen dürfen.

In den nächsten Jahren könnten sich all die Negativerfahrungen aus der ersten Bildungsexpansion in der nun allseits annoncierten zweiten Bildungsreform der Produktivitäts- und Modernitätslenker ungleich schroffer wiederholen. Die einen werden es schaffen; für die anderen ist ihre Erfolglosigkeit, ihre Unzulänglichkeit, ihr Scheitern noch bitterer - da ihnen jetzt ja eine "kollektive Chancenstruktur" von den frühen Krippe- und Vorschuljahren an zugeteilt wurde.

Der die Zukunft planvoll okkupierende Machbarkeitsstaat begreift Menschen als Heizmaterial unablässiger Produktivität. Kultur, Autonomie, Eigensinn, die Freiheit zum Nein - all dies kommt bei den Ideologen der rationellen Gesellschaftsplanung nicht mehr vor. Der normierte Mensch im "stählernen Gehäuse" des Vorsorgestaats hat die Pflicht, der verordneten Vernunft und der dekretierten Anstrengungen unbedingt Folge zu leisten. Der Zugriff erfolgt während der gesamten Biographie. "Lifelong learning" ist daher eine Lieblingsvokabel der Architekten des großen gesellschaftlichen Bauplans. Der neue Staat fordert, fördert, examiniert, evaluiert, prämiert und verwirft die Bürger - buchstäblich: lebenslänglich.

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