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Debatte BeschwichtigungspolitikEin ideologisches Trugbild

Kommentar von Christian Semler

Der Vorwurf des "Appeasement" trifft Regierungen, die mit Russland oder Iran einen friedlichen Ausgleich suchen. Doch die Kritiker bemühen falsche historische Vergleiche.

E inen üblen Geruch von Appeasement witterte der französische Philosoph Bernard-Henri Levy, als er sich kürzlich mit der Reaktion der Europäischen Union auf die russische Kriegsführung in Georgien beschäftigte. Nach Appeasement, das heißt nach Beschwichtigung, riecht nach Meinung vieler feiner Nasen auch die westliche Politik gegenüber den atomaren Aufrüstungsplänen des Iran. Und schon 2001, nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center, wurde der Angriff auf Afghanistan und später auf den Irak damit gerechtfertigt, dass jede andere Politik auf die abschüssige Bahn des Appeasements gegenüber dem internationalen Terrorismus geführt hätte.

Die Mahner vor einem Zurückweichen der europäischen Staaten angesichts der islamischen, jetzt auch der russischen Gefahr treten in der Toga Winston Churchills auf, des großen Kämpfers gegen die Politik des Appeasements, die die englischen (und ihr zögernd folgend) die französischen Kabinette in den Dreißigerjahren gegenüber der Expansionspolitik Nazi-Deutschlands praktiziert hatten. Gegen Beschwichtigungspolitik angesichts der Bedrohung durch aggressive Regime aufzutreten, bringt heute eine dreifache politische Dividende. Die Mahner können als weit- und hellsichtige Nonkonformisten auftreten, die, gegen den Strom der Beschwichtiger schwimmend, furchtlos von dem drohenden Unheil künden. Denn das Ergebnis, die Richtigkeit ihrer Voraussage, ist durch die historische Analogie verbürgt. Hat nicht Hitler alle Zusicherungen zerrissen, hat er nicht September 1939 Polen überfallen und den Zweiten Weltkrieg begonnen?

Die zweite Prämie, die die heutigen Appeasementkritiker einstreichen, besteht in der Einfachheit ihrer Erklärung für die Handlungsweise der Beschwichtiger. Es waren damals und es sind heute Feiglinge, die es nicht wagen, sich selbst und dem Volk die Wahrheit zuzumuten. Und schließlich halten die Anti-Appeasement-Champions auch noch die politische Alternative von damals hoch. Wären die demokratischen Staaten nicht zurückgewichen, so hätte Hitler es nie riskiert, den großen Krieg vom Zaun zu brechen.

Geschichtspolitik heißt der Versuch, mittels einer einseitigen, alle Komplikationen ausblendenden Methode die Geschichte in den Dienst politischer Interessen zu stellen. Hier ist die Geschichte gerade nicht die Lehrmeisterin des Lebens. Ihre Aufgabe besteht darin, ideologische und dabei massenwirksame Trugbilder zu produzieren. Diejenigen, die heute vor allem Frankreichs und Deutschlands Regierungen wegen ihrer beschwichtigenden Haltung angreifen, erliegen regelmäßig diesem ideologischen Trugbild. Mögen sie es auch ehrlich meinen und von menschenrechtlichen Idealen beseelt sein.

Die historischen Verfechter der Appeasementpolitik gegenüber Hitler, etwa die britschen Premiers Stanley Baldwin oder Neville Chamberlain, waren davon überzeugt, dass die durch den Versailler Vertrag begründete Neuordnung Europas sich als nicht haltbar erweisen würde. Insbesondere glaubten sie, dass mittels bindender vertraglicher Abmachungen dem deutschen Reich territoriale und militärische Konzessionen gemacht werden könnten. Hinter dieser Auffassung stand die Analyse, dass sich die Regierung Hitlers in den Bahnen des traditionell rechten, konservativen Revisionismus von Versailles bewegte, also als Ziel die weitgehende Wiederherstellung des Status quo ante der Zeit vor Versailles hatte.

Die Appeasementpolitiker sahen nicht, dass hinter der "revisionistischen" Rhetorik konservativer Mitglieder der Hitler-Regierung eine andere, die Hitlersche Außenpolitik stand. Diese war nicht auf Revision der Verträge und eine gleichberechtigte Rolle Deutschlands im Konzert der Großmächte ausgerichtet, sondern auf die gewaltsame Expansion des deutschen "Lebensraums", auf den Rassenkrieg im Osten und auf die Vernichtung des europäischen Judentums. Die Schwierigkeit, diese verborgene Linie zu erkennen, lag einmal in den Hitlerschen Täuschungsmanövern, seinen Friedensbeteuerungen, dann aber auch darin, dass die traditionelle konservativ-rechte deutsche Revisionspolitik der Versailler Ordnung auf so viel Verständnis stieß. Hitlers "Mein Kampf" mit seinem "Lebensraum"-Programm wurde von den Appeasementpolitikern als Spinnerei angesehen, umso mehr, als die englische Fassung absichtsvoll entschärft worden war.

Für die britische Politik der Beschwichtigung war schließlich die Einschätzung der russischen Oktoberrevolution ein treibendes Motiv. Die englische wie die französische Bourgeoisie hatten für die Bolschewiki nur inbrünstigen Hass übrig. Mochten die Nazis eine unsympathische, unzivilisierte Truppe sein, als Rammbock gegen die Sowjets waren sie allemal nützlich. Schon in den 20er-Jahren, lang vor den Auseinandersetzungen um die Beschwichtigungspolitik in Großbritannien hatte Winston Churchill die Parole ausgegeben: "Kill the Bolshies, kiss the Huns" - wobei die "Hunnen" für die Deutschen standen.

Wann war es den Appeasern möglich, das Wesen der Hitlerschen Außenpolitik zu erkennen? Diese Frage ist unter Historikern umstritten. Einige meinen, dies wäre erst im Frühjahr 1939 der Fall gewesen, was auf eine fast völlige Reinwaschung der Appeaser hinausliefe. Andere datieren den Zeitraum auf 1937, als der Versuch der britischen Diplomatie scheiterte, zu einem allgemeinen Ausgleich mit Nazi-Deutschland zu gelangen. Ich selbst meine, dass mit dem Münchner Abkommen von 1938, das den einzig demokratisch gebliebenen Staat Mitteleuropas, die Tschechoslowakei, opferte, die Kompromisslinie überschritten war. Hitler wollte unbedingt den Krieg, das war in den Verhandlungen von München erkennbar.

Gemessen an diesem Befund wäre es die Aufgabe heutiger Kritiker einer Beschwichtigungspolitik gegenüber dem Iran und vor allem gegenüber Russland nachzuweisen, dass hinter der proklamierten Friedenspolitik dieser Mächte der feste Wille steht, einen Krieg zu entfesseln. An einer solchen Beweisführung fehlt es aber gerade bei den heutigen Appeasementkritikern.

Zwar werden nach dem russischen Eingreifen in Georgien mit großem rhetorischen Aufwand "SOS Europa" gefunkt und eine grundlegende imperiale Wende der russischen Außenpolitik konstatiert, aber man wird vergeblich nach Argumenten suchen, die die gewaltsame Wiederaufrichtung des russischen Reiches in den Grenzen der Sowjetunion als die verborgene Quintessenz der Putinschen Politik plausibel erscheinen lassen. Statt einer Analyse vorhandener oder potenzieller Konfliktherde wird mit psychologischen Großkriterien wie dem der Kränkung über den Verlust des russischen Supermachtstatus hantiert. Die Kassandrarufe haben deshalb keine andere Funktion, als das schwierige Geschäft friedlichen Interessenausgleichs zu behindern und einer generellen Konfrontation mit angeblichen Kriegstreibern den Weg zu ebnen.

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1 Kommentar

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  • IN
    Ihr Name Aldo

    Ich kann diesem Artikel nur zustimmen. Das Problem jedoch erscheint mir, wir sind inzwischen in einer gigantischen Bwwusstseinsverwirrung und Verunsicherung angelangt, Bush &Berlusconi liefern dafür die Chifffren.

    Nur zur Einnerung :früher zu feudalen Zeiten gab es so etwas wie Sinnenklarheit, der gemeine Bauer wusste, dass er 3

    Tage auf dem eigenen Acker für sich und drei Tage auf dem Acker des Herrenfür fremden Willen arbeitet. Vielleicht hat dieser Bauer,wenn er seine Produktionzum Herren brachte,auf dem Weg dorthin eine damals populäre Darstellung

    gesehen:Die Spinne und die Fliege. Das Bild stellt dar, die Abgabe vonNaturalien im Hause des Edelmannes. Der Bauer zieht dabei seinen Hut,aberer täuscht sich nicht über die Machtverhältnisse. Ein halbes Jahrtausend später scheinen die Machtverhältnisse nicht mehr so klar durchschaubar zusein. Das liegt wohl daran, dass inzwischen die Medien einen Einfluss in den modernen Gesellschaften erlangt haben so dass man zurecht von der vierten Gewalt spricht. Alle Herrschenden bedienen sich dieser Medienmacht, die vor allem was das Visuelle betrift im vagen bleibt und somit Mythenbildung fördert.

    Was also tun? Gibt es dagegen überhaupt ein Rezept? Vielleicht nur das Prinzip Hoffnung, auf die Macht einer Gegenöffentlichkeit vertrauen, die ,langsam wie ein stetiger Tropfen auf dem Stein, die Wahrheit zu Tage bringt.