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Debatte AmokläuferAllmacht und Nachruhm

Kommentar von Martin Altmeyer

Wer die Botschaft von Amokläufen verstehen will, muss die Täter als Täter ernst nehmen. Ziel ihrer verzweifelten Inszenierungen ist die öffentliche Aufmerksamkeit.

Nun beginnt er wieder, der öffentliche Ursachendiskurs. Wie schon nach den Schulmassakern in Erfurt und Emsdetten fragen wir nach Winnenden: Warum? Wie konnte das geschehen, wo Tim K. doch ein netter, im Grunde unauffälliger Junge war? Was gibt es für Erklärungen?

Auf der Anklagebank haben die üblichen Verdächtigen Platz genommen, die Ankläger stehen bereit: Die Sozialkritiker verweisen auf die kalte Gnadenlosigkeit einer Konkurrenzgesellschaft, die ständig Verlierer produziert, ohne sich um sie zu kümmern. Die Schulkritiker verweisen auf die einseitige Leistungsausrichtung eines Bildungswesens, das Räume der Anerkennung verweigert. Die Kulturkritiker verweisen auf den Verlust von normativen Orientierungen und sozialen Bindungen, der junge Menschen erst in die Vereinzelung, dann in die Verzweiflung treibt. Die Medienkritiker verweisen auf gewaltschwangere Videofilme, auf perverse Bilderwelten im Internet oder auf Computerspiele, bei denen die Spieler sich mit psychopathischen Killern zu identifizieren lernen. Die Kritiker der Waffenindustrie beklagen die laschen Gesetze. Die Psychotherapeuten bedauern den Zerfall der Familie. Die Zeitdiagnostiker machen die Gewaltnarrationen der Postmoderne verantwortlich.

Wie selbstverständlich denken wir bei Katastrophen in Kausalzusammenhängen, insbesondere wenn es um zwischenmenschliche Schreckenstaten geht, deren Motive im Dunkeln zu liegen scheinen. So dringen wir, um Licht in die Sache zu bringen, von der Oberfläche in die Tiefe.

Die kausale Tiefenbohrung entfernt uns freilich nicht nur vom Tatgeschehen, sondern auch vom Täter, dem wir seine Verantwortung entwinden. Denn die Suche nach den tieferen Ursachen wird unmerklich zur Suche nach dem wahren Täter und der eigentlichen Schuld. Unter der Hand verwandelt sich der wirkliche Täter in das Opfer zahlreicher Umstände, die ihn schließlich zu dem Monster gemacht haben, als das er sich am Tatort dann entpuppt. Indem er vom Täter zum Opfer wird, beraubt man ihn der Autorenschaft für das, was er getan hat. Die Logik der Erklärung macht ihn zur Marionette, an der andere ziehen, nur er selber nicht.

Was aber, wenn solche Taten aus ihren eigenen Wirkungen zu begreifen wären, wenn sie in sich selbst ihre Erklärung fänden: in dem öffentlichen Horrorszenario, das sie erst schaffen. In den entsetzten Publikumsreaktionen, auf die sie abzielen. In den Allmachtsfantasien, welche die Autoren gerade durch die Aufführung eines zeitgenössischen Bühnenstücks befriedigen, das als lange vorfantasierte und gründlich durchgearbeitete Inszenierung alles andere als ein "Amoklauf" ist.

Wir müssen das Skript lesen lernen, das Autoren wie Robert S., Sebastian M. oder Tim K. stets nach demselben Grundmuster geschrieben (und von Columbine abgeschrieben) haben - das Skript für ein narzisstisches Drama, bei dem die Drehbuchschreiber zugleich die Hauptrolle übernehmen, die Nebenrollen besetzen und bis zum großen Finale die Dramaturgie bestimmen. Wer der Bedeutung dieses sprachlosen Gewalttheaters auf die Spur kommen will, kommt nicht umhin, dessen szenische Umsetzung zu studieren und die Phämonenologie der Gewalt in den Blick zu nehmen.

In seinem Buch "Vertrauen und Gewalt" (2008) hält Jan Philipp Reemtsma der soziologischen Gewaltforschung vor, zwar die Ursachen der Gewalt, nicht aber das Gewaltphänomen selbst zu untersuchen. In der Tat befasst sich diese "Ursachen-Soziologie" mit abweichendem oder kriminellem Verhalten stets als Folge gesellschaftlicher Pathologien, genau wie eine "Ursachen-Psychoanalyse" in den unbewussten Abgründen der Seele, eine "Ursachen-Biologie" in der genetischen Substanz oder eine "Ursachen-Neurowissenschaft" in den Programmierungen des Gehirns nach Ursachen forscht, als deren pathogene Wirkung - selbstverständlich in hochkomplizierten Ableitungsketten - das problematische Verhalten letzten Endes gilt. Eine genuine Gewaltforschung aber müsste sich direkt dem körperlichen Gewaltakt widmen, samt den immanenten Botschaften, die er vermittelt. Denn als Form sozialen Handelns verfolgt zwischenmenschliche Gewalt nicht bloß Zwecke mit Mitteln, sondern sie kommuniziert etwas.

Aber was und wie? Gewaltkommunikationen verkünden nicht nur die eigene Macht und die Ohnmacht des anderen, dessen Körper mit dem Ziel der Vernichtung attackiert wird, sondern weisen über die direkte Täter-Opfer-Beziehung hinaus. Sie brauchen einen Dritten, der als Zeuge oder Zuschauer am Tatgeschehen teilhat und dem Täter seine absolute Verfügung über das Opfer bescheinigt. Ein erschüttertes Publikum - und sei es ein imaginäres Publikum - ist unverzichtbar, um jenen Spiegel- und Resonanzraum herzustellen, der die Gewaltbotschaft aufnimmt und dem Täter zurückmeldet, dass sie angekommen ist: Ich habe den anderen vernichtet - und die Welt hat dabei zugesehen. Nicht zufällig ist von allen Star-Wars-Figuren Darth Vader die beliebteste: weil der Bösewicht allmächtig ist.

Taten nach dem Vorbild von Columbine lassen sich als machtvolle Selbstinszenierungen vor Publikum verstehen. Die Täter handeln, um aus der quälenden Unauffälligkeit herauszutreten. Im furiosen Gewaltgeschehen fallen sie auf. Nun sind sie nicht länger die Schwachen, Versager und Verlierer, die verkannten, missachteten, übersehenen Außenseiter, sondern allmächtige Gestalten, die den Spieß umdrehen. Schrecken und Tod verbreitend, hinterlassen sie der erschütterten Nachwelt ein makabres Bild der eigenen Größe. An diesem Akt der Selbsterschaffung haben freilich andere mitgearbeitet. Das Werk ist eine soziale Koproduktion, an der eine entfesselte Mediengesellschaft beteiligt ist, die überall Schaubühnen bereithält, auf denen Erwachsene wieder auf das Entwicklungsniveau von Kleinkindern regredieren, die nach Aufmerksamkeit gieren. In den grassierenden Talk-, Quiz-, Casting- und Realityshows des interaktiven Fernsehens wird vorgemacht, wie sich berühmt werden lässt, indem man Beachtung erzeugt. Auch der Namenlose erhält in diesen Spiegelkabinetten unserer Zeit seine Chance, wenn er nur spektakulär genug auftritt: "Ich werde gesehen, also bin ich" - ein kindliches Muster, aber in der Regel harmlos.

Erst wenn sich die zeitgenössische Sehnsucht nach medialer Spiegelung mit der privaten Wut eines beschädigten Selbst verbindet, das auf seine Stunde wartet, entsteht jener mentale Brandsatz, der in Winnenden erneut explodiert ist - nicht zum letzten Mal. Denn auch der Hass, der sich auf den globalisierten Schaubühnen der Gewalt so grandios und selbstgerecht in Szene setzt, hat identitätsstiftende Funktion: "Ich hasse und werde von denen gefürchtet, die mich beleidigt haben: also bin ich!" Alle Ursachenforschung verfehlt diesen performativen Kern wütender Identitätssuche, die noch im Showdown verzweifelt auf Nachruhm spekuliert.

MARTIN ALTMEYER

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3 Kommentare

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  • SY
    Seçil Yusun

    Liebe Lara, wie immer schicke ich Dir doch so gerne gute Textquellen aus dem WorldWideShitWeb;-)Habe diesen Artikel gestern in der TAZ gelesen und finde ihn endlich mal aussagekräftig, gerade vor dem Hintergrund medialer Erklärungswut aus der Feder semiprofessioneller Schreiber zum Thema Amoklauf. Altmeyers Texte sind meist sehr lesenswert, weil darin Narzissmus und Medien verahndelt werden. Wünschte, es gäbe eine Berichterstattungspause über Tim K. mit diesem Artikel als Schlusswort. Aus bald... Seçil

  • S
    stella

    Interessante Perspektive auf die Dinge, wobei ich die Bedeutung der Medien hier für stark überbewertet halte wie in den meisten Berichterstattungen auch.

    Nicht alle Menschen wollen sich auf die Schowbühne stellen/stellen lassen, erst recht, weil es mittlerweile jeder tun kann, egal wie niveaulos. Von diesem Standpunk aus erscheinen mir Gefühle wie massives Fremdschämen, Ekel und Verachtung für diese armen nach Selbstbestätigung haschenden Würstchen für viel plausibler. Anscheinend eine extreme Außenseiterposition, weil wenig bedacht - sie rüttelt schließlich an den Egos vieler dumpfer Menschen aber nicht am Ego des Täters, im Gegenteil. Eine Vereinnahmung des Täters in diesem Punkt ist so schön einfach, da bleibt unsere Welt uin Ordnung. Aber nicht selten versuchen Täter im Falle einer Verhandlung, sich mit Jacken, Mappen, Mützen, Händen vor Kameras zu schützen, geben nichts an die Presse.

    Die Bedeutung von Medien soll damit nicht herunter gespielt werden, lediglich auf einen anderen Standpunkt gestellt werden.

    Um genauer zu sein, bezweifel ich stark, wie Martin Altmeyer schreibt, daß sich hier"zeitgenössische Sehnsucht nach medialer Spiegelung mit der privaten Wut eines beschädigten Selbst verbindet" und so ein mentaler Brandsatz entsteht. Hass und Wut können auch so groß genug werden, da bedarf es nicht noch dem Wunsch nach Bespiegelung und ist im entsprechende Moment wahrscheinlich einfach völlig sch**** egal.

    Dieser reine fatale Hass ist das scheinbar schwer für uns zu ertragende, denn er richtet sich direkt gegen uns und unsere Gesellschaft. Daß es da noch weitere Faktoren geben muß, wäre eine schöne Entlastung für uns alle.

     

    Eine Frage an den Autor:

    Was ist eigentlich mit dem "performativen Kern wütender Identitätssuche" gemeint? Ist doch ein "sprachloses Gewalttheater".

  • S
    steffendi_X

    Warum,

    diese Frage beschäftigt mich schon seit geraumer Zeit. Nicht erst seit dem Tag der das Grauen in die Nachbarschaft brachte. Die Frage nach dem Warum, taucht immer erst in dicken Lettern auf, wenn es zu spät ist. Leider ist das so, viel trauriger finde ich jedoch die Tatsache, das die Fassungslosigkeit und das Bestürzen über solche Taten meist nicht länger anhält, als die Freude über eine neue Jeans.

    Nur bei den direkt Betroffenen werden diese Erlebnisse zum stetigen Begleiter und dies in den meisten Fällen ein Leben lang, weil sie das Erlebniss am eigenen Körper zu spüren bekommen haben.

    „Warum“ ist das so?

    Ich denke, das die Medien hierbei eine große Rolle spielen und auch einen wesentlichen Teil dazu beitragen, das solche Taten geschehen. Zum einen was das Nachdenken und das Nachwirken solcher Meldungen angeht, verfolgen sie ähnliche Ziele wie Eintagsfliegen. Sie werden geboren und fressen alles auf, was für sie an Nahrung abfällt, und zeugen soviel Nachkommen wie möglich. Dann sterben sie und es werden neue geboren, die aber aus dem gleichen Holz geschnitzt sind und die gleichen Ziele verfolgen, wie ihre Vorgänger.

    Hierfür gibt es ein Beispiel über das ich hier in der TAZ gelesen habe.

    Daraufhin äußerte ein Bild-Reporter am Tag des Anschlages vor der Albertville-Realschule, in der zu diesem Zeitpunkt immer noch zwölf Tote liegen.“Hier sei alles "abgegrast", es gebe nichts mehr zu holen, er gehe jetzt.“ (http://www.taz.de/1/leben/alltag/artikel/1/winnenden-die-story/)

     

    Dies zeigt leider worum es den meisten Journalisten in der heutigen Zeit geht, jedoch gibt es auch einige Ausnahmen!

    Hierdurch entsteht eine sehr kurzatmige Betroffenheit, weil die nächste Sensation bzw. das nächste Blutbad schon in einem anderen Ort, oder einem anderen Land wartet. Dem Journalisten sein Brot, der Nachricht ihr Tod. Hört sich grausam an, doch leider ist das so. Ich studiere seit einiger Zeit auch Journalismus und komme mit so mancher Geschäftspraxis dieser Berufsgruppe gar nicht zurecht.

    Doch auch hier gilt“ Angebot und Nachfrage“ bestimmen den Markt.

     

    Was die Mitschuld der Medien an solchen Taten angeht, muss man nicht weit ausholen.

    Um so Medienwirksamer ein Terroranschlag oder auch die Übernahme eines Konzerns inszeniert wird, umso größer die Anteilnahme der Bevölkerung. Auch wenn die Dauer der Wirkung mit der nächsten Top-Meldung verblasst, geht man in die Geschichte ein und reserviert sich einen Platz in der Erinnerung.

    Es ist zu Bedauern, dass hierdurch ein Wettbewerb entsteht, der wie unsere Wirtschaft auf Wachstum basiert. Wer hört den heute schon noch hin, wenn in den Medien über eine Autobombe berichtet wird. Nein, das reicht heute nicht mehr aus um sich gehör zu verschaffen, man braucht schon mehrere Autobomben am besten welche die von Selbstmordattentätern direkt in ihr Ziel gefahren bzw. geflogen werden.

    Der Mensch härtet ab und die Medien tun Ihren Teil dazu. Schnell sucht man nach den Antworten und schnell vergisst man die gefundenen. Anstatt ausführlicher Berichterstattung, greifen Journalisten auf unseriöse Quellen zurück und spucken dies dann wieder aus.

    Ständig werden Meldungen geändert oder ergänzt, in manchen Fällen auch ganz zurückgezogen.

    Dies war bestimmt schon immer so, doch nicht in einem so engen Zeitfenster wie heutzutage.

    Es gilt immer den anderen zu topen, oder dessen Berichterstattung zu hinterfragen. Besser und blutiger zu sein als der Konkurrent. Diese Haltung färbt auf die Gesellschaft ab und schafft Sensationsgeilheit.

     

     

    Wir fragen nach dem Warum, immer wieder aufs neue, dabei liegen die Antworten auf der Hand.

    Es sind die Medien in Verbindung mit der Politik die unsere Gesellschaft prägen.

    Der Leistungsdruck unter dem die Menschen in der heutigen Zeit stehen, immer besser, immer schneller, immer effektiver, immer schöner zu sein kommt ja nicht von ungefähr.

    Da bleibt leider wenig Zeit sich den Kindern oder den Nachbarn anzunehmen, weil man ja mit sich selbst beschäftigt ist, den Anforderungen zu entsprechen.

     

    Horrorvideos, Pornobilder auf der Festplatte und als Lieblingsspiel Counterstrike in Verbindung mit Softair-pistolen an der Wand, sind schnell als Inspiration für solch eine Tat ausgemacht.

    Doch Inspiration reicht für so etwas nicht aus, es bedarf auch einer Entschlossenheit etwas besonderes zu leisten. Doch darauf wird man von Kindheit an getrimmt. Tim Kretschmer fühlte sich als etwas besonderes, mächtiges doch leider blieb er unverstanden und schottete sich allmählich von seinem sozialen Umfeld ab, weil sie in sowieso nicht verstehen würden.

    Er war ja der Gewinner bei Turnieren und der Sohn eines erfolgreichen Unternehmers und Sportschützen, der zum Ausdruck seiner Macht-seines Egos Waffen benötigte. Der Vater, der vermutlich nur wenig Zeit hatte für seinen Sohn, zwecks der Gesellschaftlichen und Wirtschaftlichen Verpflichtungen die er hatte, kompensierte dies vermutlich mit einer Menge materieller Dinge als Ersatz für Zuneigung.

    Die Zeit, die er mit seinem Sohn verbrachte, galt dem gewinnen, dem sich hervorheben, oder auf dem Schießstand ins schwarze zu treffen.

    Dies tat er, doch schmerzlich musste er in seinem sonstigen Umfeld erfahren, das ein Ausbildungsplatz in der Firma des Vaters und die Rolle des erfolgreichen Tischtennisspielers, nicht ausreichen, um sich zu einer eigenen, bei Freunden anerkannten Person zu entwickeln.

    Da entschied er sich diejenigen, die ihn nicht als etwas besonderes sahen zu bestrafen, um ihnen zu zeigen wie mächtig er ist.

     

    Ich entschuldige hiermit in keiner Weise die Tat des Tim Kretschmer, doch ich weise darauf hin das auch er ein Opfer ist, ein Opfer der Gesellschaft und ihrer Schnelligkeit.

    Das Faustrecht wird zwar verpönt und gilt in der zivilisierten Welt als sozialisiert. Doch man lese einfach nur den Wirtschaftsteil einer Zeitung und schnell wird man sehen das dies trotz allem das Maas aller Dinge ist.