Debatte Amokläufer: Allmacht und Nachruhm
Wer die Botschaft von Amokläufen verstehen will, muss die Täter als Täter ernst nehmen. Ziel ihrer verzweifelten Inszenierungen ist die öffentliche Aufmerksamkeit.
Nun beginnt er wieder, der öffentliche Ursachendiskurs. Wie schon nach den Schulmassakern in Erfurt und Emsdetten fragen wir nach Winnenden: Warum? Wie konnte das geschehen, wo Tim K. doch ein netter, im Grunde unauffälliger Junge war? Was gibt es für Erklärungen?
Auf der Anklagebank haben die üblichen Verdächtigen Platz genommen, die Ankläger stehen bereit: Die Sozialkritiker verweisen auf die kalte Gnadenlosigkeit einer Konkurrenzgesellschaft, die ständig Verlierer produziert, ohne sich um sie zu kümmern. Die Schulkritiker verweisen auf die einseitige Leistungsausrichtung eines Bildungswesens, das Räume der Anerkennung verweigert. Die Kulturkritiker verweisen auf den Verlust von normativen Orientierungen und sozialen Bindungen, der junge Menschen erst in die Vereinzelung, dann in die Verzweiflung treibt. Die Medienkritiker verweisen auf gewaltschwangere Videofilme, auf perverse Bilderwelten im Internet oder auf Computerspiele, bei denen die Spieler sich mit psychopathischen Killern zu identifizieren lernen. Die Kritiker der Waffenindustrie beklagen die laschen Gesetze. Die Psychotherapeuten bedauern den Zerfall der Familie. Die Zeitdiagnostiker machen die Gewaltnarrationen der Postmoderne verantwortlich.
Wie selbstverständlich denken wir bei Katastrophen in Kausalzusammenhängen, insbesondere wenn es um zwischenmenschliche Schreckenstaten geht, deren Motive im Dunkeln zu liegen scheinen. So dringen wir, um Licht in die Sache zu bringen, von der Oberfläche in die Tiefe.
Die kausale Tiefenbohrung entfernt uns freilich nicht nur vom Tatgeschehen, sondern auch vom Täter, dem wir seine Verantwortung entwinden. Denn die Suche nach den tieferen Ursachen wird unmerklich zur Suche nach dem wahren Täter und der eigentlichen Schuld. Unter der Hand verwandelt sich der wirkliche Täter in das Opfer zahlreicher Umstände, die ihn schließlich zu dem Monster gemacht haben, als das er sich am Tatort dann entpuppt. Indem er vom Täter zum Opfer wird, beraubt man ihn der Autorenschaft für das, was er getan hat. Die Logik der Erklärung macht ihn zur Marionette, an der andere ziehen, nur er selber nicht.
Was aber, wenn solche Taten aus ihren eigenen Wirkungen zu begreifen wären, wenn sie in sich selbst ihre Erklärung fänden: in dem öffentlichen Horrorszenario, das sie erst schaffen. In den entsetzten Publikumsreaktionen, auf die sie abzielen. In den Allmachtsfantasien, welche die Autoren gerade durch die Aufführung eines zeitgenössischen Bühnenstücks befriedigen, das als lange vorfantasierte und gründlich durchgearbeitete Inszenierung alles andere als ein "Amoklauf" ist.
Wir müssen das Skript lesen lernen, das Autoren wie Robert S., Sebastian M. oder Tim K. stets nach demselben Grundmuster geschrieben (und von Columbine abgeschrieben) haben - das Skript für ein narzisstisches Drama, bei dem die Drehbuchschreiber zugleich die Hauptrolle übernehmen, die Nebenrollen besetzen und bis zum großen Finale die Dramaturgie bestimmen. Wer der Bedeutung dieses sprachlosen Gewalttheaters auf die Spur kommen will, kommt nicht umhin, dessen szenische Umsetzung zu studieren und die Phämonenologie der Gewalt in den Blick zu nehmen.
In seinem Buch "Vertrauen und Gewalt" (2008) hält Jan Philipp Reemtsma der soziologischen Gewaltforschung vor, zwar die Ursachen der Gewalt, nicht aber das Gewaltphänomen selbst zu untersuchen. In der Tat befasst sich diese "Ursachen-Soziologie" mit abweichendem oder kriminellem Verhalten stets als Folge gesellschaftlicher Pathologien, genau wie eine "Ursachen-Psychoanalyse" in den unbewussten Abgründen der Seele, eine "Ursachen-Biologie" in der genetischen Substanz oder eine "Ursachen-Neurowissenschaft" in den Programmierungen des Gehirns nach Ursachen forscht, als deren pathogene Wirkung - selbstverständlich in hochkomplizierten Ableitungsketten - das problematische Verhalten letzten Endes gilt. Eine genuine Gewaltforschung aber müsste sich direkt dem körperlichen Gewaltakt widmen, samt den immanenten Botschaften, die er vermittelt. Denn als Form sozialen Handelns verfolgt zwischenmenschliche Gewalt nicht bloß Zwecke mit Mitteln, sondern sie kommuniziert etwas.
Aber was und wie? Gewaltkommunikationen verkünden nicht nur die eigene Macht und die Ohnmacht des anderen, dessen Körper mit dem Ziel der Vernichtung attackiert wird, sondern weisen über die direkte Täter-Opfer-Beziehung hinaus. Sie brauchen einen Dritten, der als Zeuge oder Zuschauer am Tatgeschehen teilhat und dem Täter seine absolute Verfügung über das Opfer bescheinigt. Ein erschüttertes Publikum - und sei es ein imaginäres Publikum - ist unverzichtbar, um jenen Spiegel- und Resonanzraum herzustellen, der die Gewaltbotschaft aufnimmt und dem Täter zurückmeldet, dass sie angekommen ist: Ich habe den anderen vernichtet - und die Welt hat dabei zugesehen. Nicht zufällig ist von allen Star-Wars-Figuren Darth Vader die beliebteste: weil der Bösewicht allmächtig ist.
Taten nach dem Vorbild von Columbine lassen sich als machtvolle Selbstinszenierungen vor Publikum verstehen. Die Täter handeln, um aus der quälenden Unauffälligkeit herauszutreten. Im furiosen Gewaltgeschehen fallen sie auf. Nun sind sie nicht länger die Schwachen, Versager und Verlierer, die verkannten, missachteten, übersehenen Außenseiter, sondern allmächtige Gestalten, die den Spieß umdrehen. Schrecken und Tod verbreitend, hinterlassen sie der erschütterten Nachwelt ein makabres Bild der eigenen Größe. An diesem Akt der Selbsterschaffung haben freilich andere mitgearbeitet. Das Werk ist eine soziale Koproduktion, an der eine entfesselte Mediengesellschaft beteiligt ist, die überall Schaubühnen bereithält, auf denen Erwachsene wieder auf das Entwicklungsniveau von Kleinkindern regredieren, die nach Aufmerksamkeit gieren. In den grassierenden Talk-, Quiz-, Casting- und Realityshows des interaktiven Fernsehens wird vorgemacht, wie sich berühmt werden lässt, indem man Beachtung erzeugt. Auch der Namenlose erhält in diesen Spiegelkabinetten unserer Zeit seine Chance, wenn er nur spektakulär genug auftritt: "Ich werde gesehen, also bin ich" - ein kindliches Muster, aber in der Regel harmlos.
Erst wenn sich die zeitgenössische Sehnsucht nach medialer Spiegelung mit der privaten Wut eines beschädigten Selbst verbindet, das auf seine Stunde wartet, entsteht jener mentale Brandsatz, der in Winnenden erneut explodiert ist - nicht zum letzten Mal. Denn auch der Hass, der sich auf den globalisierten Schaubühnen der Gewalt so grandios und selbstgerecht in Szene setzt, hat identitätsstiftende Funktion: "Ich hasse und werde von denen gefürchtet, die mich beleidigt haben: also bin ich!" Alle Ursachenforschung verfehlt diesen performativen Kern wütender Identitätssuche, die noch im Showdown verzweifelt auf Nachruhm spekuliert.
MARTIN ALTMEYER
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