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Archiv-Artikel

„Das war schon grenzwertig“

Horst Dreier, Verfassungsrechtler

Horst Dreier, geboren am 7. September 1954 in Hannover, ist seit 1995 an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Ordinarius für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht. Vor neun Jahren wurde er mit dem bayerischen „Preis für gute Lehre“ ausgezeichnet.

Dreier ist verheiratet, lebt mit seiner Familie in Reinbek bei Hamburg und legt großen Wert darauf, an den Wochenenden aus Würzburg oder wie momentan aus Erfurt nach Hause zu fahren, weil er „das Aufwachsen meines Kindes so nah wie irgend möglich miterleben möchte“.

Der bekennende Protestant sitzt seit 2000 im Kuratorium der F.E.S.T. (Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V.); seit zwei Jahren ist Dreier Mitglied des Hochschulbeirates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Außerdem ist er stilles Mitglied der SPD. Er zählt sich, müsste er sich verorten, eher zu deren konservativem Flügel.

Von 2001 bis 2007 war er Mitglied des Nationalen Ethikrats, in dem auch zur Stammzellendebatte disputiert wurde; dabei vertrat er einen zu katholischen Sichtweisen konträren Standpunkt. In der Bundestagsfraktion der Union kamen seine wichtigsten Gegner aus Baden-Württemberg.

Publikationen: „Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus“ (2001) und „Lebensschutz und Menschenwürde in der bioethischen Diskussion“ (2002). JAF

Der Würzburger Verfassungsrechtler Horst Dreier über den nahen 60. Geburtstag des Grundgesetzes, Menschenwürde, die Freiheit in der Debatte über die Patientenverfügung – und seine Nichtwahl zum Karlsruher Verfassungsrichter

INTERVIEW JAN FEDDERSEN

Horst Dreier war der Kandidat der SPD für das Bundesverfassungsgericht – die Union lehnte ihn schließlich ebenso ab, wie es Kritik seitens der Linken hagelte. Er arbeitet momentan nicht an seinem Lehrstuhl für Rechtsphilosophie in Würzburg, sondern ist Fellow am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien in Erfurt. Sein Thema: Verfassungsstaatlichkeit. Er empfängt in einem tatsächlich sehr kärglichen Zimmer. Er interessiert sich auf Anhieb für das iPhone des Interviewers; seiner Frau habe er eines zu Weihnachten geschenkt und erkundigt sich, ob es als Aufnahmegerät funktioniere: Ja, tut es.

taz.mag: Herr Dreier, am 23. Mai werden das Grundgesetz und somit auch die Bundesrepublik sechzig Jahre alt. Haben die Deutschen mit dem Grundgesetz die Freiheit gelernt?

Horst Dreier: Wieder gelernt, würde ich sagen, nicht erst erlernt. Es gab ja die Weimarer Verfassung …

die zum Reichskanzler Adolf Hitler führte.

Trotzdem war es eine gute Verfassung, aber eben mit schwersten Hypotheken belastet und gewaltigen politischen wie ökonomischen Krisen ausgesetzt. Ich bin nicht sicher, ob das Grundgesetz die ersten Jahre überlebt hätte, wenn das Land ähnliche Belastungen hätte ertragen müssen wie die Weimarer Republik.

Wie sah denn die Perspektive in der verfassungsrechtlichen Diskussion von 1949 aus?

Dass das Grundgesetz höchstens ein paar Jahre gilt. Aber nicht wegen der Erfahrung des Scheiterns von Weimar, sondern wegen der Wiedervereinigung.

Inwiefern?

Bei der Schaffung des Grundgesetzes gingen alle davon aus, dass damit nur eine Art Notbau für eine begrenzte Übergangszeit geschaffen werden sollte. Schon in der Bezeichnung „Grundgesetz“ kam das zum Ausdruck. Eine richtige Verfassung sollte dann erst nach der Wiedervereinigung beschlossen werden. Aber bis dahin hat es eben sehr viel länger gedauert als ursprünglich angenommen.

Könnte man sagen: ein Glücksfall? Immerhin gilt das Provisorium bis heute – und hat auch die Wiedervereinigung überdauert.

Ja. Bei der Wiedervereinigung hat sich gezeigt, dass aus dem Provisorium längst ein ganz stabiles und systemtragendes Element geworden ist. Unsere Verfassung ist ein Erfolgsmodell.

Neulich haben Sie in einem Vortrag in München vor einer Sakralisierung des Grundgesetzes gewarnt. Warum?

Ich warne davor, die Verfassung als eine Art säkulare Bibel zu begreifen. Als ob in ihr alle Weisheit gebündelt sei. Man muss nur hineinsehen – und findet verbindliche Antworten auf alle Fragen.

Was glauben Sie hingegen?

Eine Verfassung soll die politischen Verhältnisse ordnen, Herrschaft rationalisieren und limitieren, Freiheit gewähren – aber nicht auch noch die letzten Sinnfragen beantworten.

Welche meinen Sie?

Die nach dem guten Leben, nach Gott, nach persönlicher Weltsicht oder Weltanschauung. Da kann uns eine politische Verfassung nicht weiterhelfen.

Wer sucht, der findet – gleich wo?

Das ist gerade die Gefahr. Jeder projiziert in die Verfassung die eigenen Anschauungen hinein. Aber sie ist keine Art Moralsubstitut, bei dessen Lektüre man sagen könnte: Ach, guck, da steht doch meine Weltsicht und mein Glaube schon drin. Schon der Gedanke ist falsch. Das Grundgesetz soll nicht Sittlichkeit verkörpern, es soll die sittliche Autonomie des Einzelnen ermöglichen.

Mit privilegierenden Passagen für die Religionsgesellschaften?

Ihnen sind in der Tat bestimmte Vorrechte eingeräumt. Aber es war vom Parlamentarischen Rat sehr weise, alle Versuche zu unterbinden, ansonsten von „heiligen Rechten“ oder „gottgegebenen Rechten“ zu sprechen. Damit wäre man schon einen guten Schritt in Richtung Sakralisierung gegangen. Im Übrigen handelt es sich bei der einzigen Stelle, in der im geltenden Grundgesetz Gott auftaucht, nämlich in der Präambel, um eine Demutsformel.

Die was bedeutet?

Dass alles, was wir schaffen, auch eine Verfassung, nur Menschenwerk und damit fehlbar ist.

Voriges Jahr, als Sie Kandidat für das Karlsruher Verfassungsgericht waren, mokierte man sich auf konservativer Seite über ihre Sicht, dass sich das Grundgesetz nicht allein aus christlichen Traditionen speist. Aus welchen denn noch?

Grob gesagt: aus Traditionen der stoischen und sonstigen antiken Philosophie, der Aufklärung, des Humanismus, des rationalistischen Naturrechts, aus der Französischen wie der Amerikanischen Revolution. Die Verfassungsdokumente dieser Zeit sind ja die strahlenden Vorbilder des Grundgesetzes. Und jedenfalls die französischen Revolutionäre waren dezidiert antiklerikal. Umgekehrt hat der Papst die Menschenrechtserklärung von 1789 zwei Jahre später für unvereinbar mit Vernunft und Offenbarung erklärt.

Die Kirchen sahen sich durch diese Äußerung diskreditiert.

Das will ich jedenfalls für die meine nicht hoffen. Denn ich würde ja nie bestreiten, dass es im Christentum auch Bewegungen gab, die kompatibel sind mit modernen Grundrechtsdemokratien. Aber von der Gleichheit aller vor Gott, von der schon die Bibel spricht, bis zur Anerkennung der gleichen Rechte aller Menschen im und gegen den Staat hat es doch sehr lange gedauert.

Waren nicht die Amtskirchen ein Hemmschuh für die demokratische Verfassungsentwicklung?

Das müsste man im Einzelnen anschauen und wohl zwischen offizieller Dogmatik der Amtskirchen und einzelnen Denkfiguren christlicher Herkunft unterscheiden. Mit Jesus ist das Prinzip der Subjektivität in die Welt getreten, steht irgendwo bei Hegel. Mit Martin Luther assoziieren wir die Idee des persönlichen Gewissens . Das bedeutet aber historisch eben nicht, dass unser heutiges Grundrechtsverständnis im Kern schon immer festes Gedankengut der christlichen Kirchen gewesen wäre.

Die Idee der Freiheit auch von Gott – wie sie im Grundgesetz steht – musste doch beinhart gegen die Kirchen durchgesetzt werden.

Sagen wir: Es ist ihnen schwergefallen, den Gedanken der Freiheit des religiösen Bekenntnisses und damit auch des Religionswechsels zu bejahen. Bei der katholischen Kirche hat das bis zum zweiten Vatikanum gedauert, genauer bis 1965. Da war das Grundgesetz schon 16 Jahre in Kraft. Aber heute gehören die Kirchen erfreulicherweise zu den Stützen des freiheitlichen Verfassungsstaates.

Weshalb dauerte es sehr viele Jahre, ehe das Gebot des Grundgesetzes, dass Mann und Frau gleiche Rechte haben, durchgesetzt wurde?

Bemerkenswerterweise hat das Verfassungsgericht in den Fünfziger- und Sechzigerjahren Sprüche gefällt, die vom Gesetzgeber …

. . . einem christlich-konservativen . . .

… ignoriert wurden. Nämlich zur Gleichstellung der unehelichen Kinder. Hier wurde der grundgesetzliche Gesetzgebungsauftrag einfach nicht erfüllt. Das änderte sich erst mit der sozialliberalen Koalition.

In den Fünfzigern gab es, etwa zur Frage der Entschädigung für erlittenes Naziunrecht, Urteile aus Karlsruhe gegen homosexuelle Männer.

Das ist natürlich kein Vergleich mit dem Spruch aus Karlsruhe zu Eingetragenen Lebenspartnerschaften im Jahre 2002. Gemessen an heutigen Vorstellungen gab es abgründige Entscheidungen etwa des Bundesgerichtshofs zum Verhältnis von Mann und Frau. Da war dann vom ewigen Sittengesetz die Rede, um die Unterordnung der Frau im Familienrecht zu begründen. Es hat eben eine ganze Weile gedauert, bis Gesetzgeber und Jurisprudenz die Gleichberechtigung von Mann und Frau einigermaßen durchgesetzt haben.

Der Fortschritt …

… ist eine Schnecke, und man kann nur froh sein, wenn die Entwicklung in die richtige Richtung läuft. In die falsche Richtung kann man gar nicht langsam genug gehen.

Stellt sich das Grundgesetz – aus der Sicht liberaler Juristen – als unwahrscheinlicher Glücksfall dar?

Unbedingt. So lange hat eine deutsche Verfassung, zumal eine freiheitlich-demokratische, noch nie gegolten. Aber es hat gedauert, ehe das Grundgesetz in der Judikatur wie auch in der Gesellschaft akzeptiert war.

Bis hin zu Linken, die mithilfe des Grundgesetzes ihre Ansprüche geltend machen. Ist Ausbeutung mit der Würde des Menschen vereinbar?

Bezeichnenderweise taucht der Begriff der Menschenwürde schon in der Weimarer Reichsverfassung auf, nämlich im Zusammenhang mit Arbeitsverhältnissen. Dem Grundgesetz entnehmen wir heute ein Existenzminimum für jedermann, in welcher Höhe man auch immer das ansetzt. Das folgt aus dem Sozialstaatsgebot in Verbindung mit dem Artikel 1.

Wie definieren Sie Freiheit?

Ach, wenn ich das so abstrakt oder gar allgemein verbindlich definieren könnte! Als Verfassungsrechtler würde ich sagen: Freiheit meint autonome Selbstbestimmung des Einzelnen über sich selbst und seinen Lebensvollzug. Wahlmöglichkeiten spielen dabei eine zentrale Rolle: Freizügigkeit meint etwa, dass ich meinen Aufenthaltsort bestimmen kann. Oder die Berufsfreiheit. Ich selbst wähle meinen Beruf, er wird mir nicht durch die Zunft oder den Gutsherrn vorgegeben. Und ich kann meine Religionszugehörigkeit wechseln.

Aktuell in der Debatte um die Patientenverfügung – was heißt Freiheit?

Hier ist Ausgangspunkt die Selbstbestimmung des Patienten in Bezug auf medizinische Eingriffe und Therapien. Dass der Arzt nicht einfach bestimmen darf: Jetzt kommt der Blinddarm aber raus! Oder: Jetzt nehmen Sie diese Tabletten mal schön, und tschüss. Es hat lange gedauert, das durchzusetzen, aber heute gilt: Kein Eingriff ohne meine Einwilligung. Das ist verfassungsrechtlich und strafrechtlich unbestritten.

Und wenn Zeugen Jehovas einer Bluttransfusion nicht zustimmen?

Dann gilt das auch, wenn es sich um ihren eigenen Körper handelt. Schwierig wird es dann, wenn es um das Leben der Kinder geht. Da ist ein Punkt erreicht, an dem ich eindeutig das Wächteramt des Staates befürworte. Aber voll zurechnungsfähige erwachsene Menschen können Sie nicht zu einer lebensrettenden Transfusion oder einem vergleichbaren operativen Eingriff zwingen.

Und die Patientenverfügung?

Sie ist im Grunde ein vorweggenommener Akt der Selbstbestimmung für den Moment, wenn man seinen Willen selbst nicht mehr artikulieren kann.

Wogegen argumentieren Sie?

Dass man Selbstbestimmung hier für eine Schimäre hält oder gegen den Lebensschutz ausspielt.

Das wird ja hauptsächlich von christlicher Seite eingebracht.

Jeder Dampfmichel, in unzähligen Artikeln zum Beispiel in der FAZ oder SZ, erklärt uns immer wieder, man müsse die Selbstbestimmung gegen den Lebensschutz abwägen. Aber hier richtet sich die Selbstbestimmung auf den eigenen Körper, das eigene Leben! Wenn ich als Ausdruck meiner Selbstbestimmung sage: diese Operation will ich nicht, kann man nicht mit dem abstrakten Gedanken des Lebensschutzes kommen und ihn gegen mich, mein Leben und meine körperliche Unversehrtheit, ausspielen. Das geht nicht, das ist völlig absurd.

Was stört Sie an den anderslautenden Vorstellungen?

Dass anstelle meines Willens, den ich klar dokumentiert habe, so eine Art diskursives Oberseminar von Ärzten, Pflegern, Verwandten und Priestern tritt. Das halte ich für so abwegig, dass mir fast die Worte fehlen. Es setzt Fremdbestimmung an die Stelle von Selbstbestimmung. Wenn jemand keine Patientenverfügung hat, dann geht das nicht anders, dann muss der mutmaßliche Wille erforscht werden. Und niemand wird ja gezwungen, eine solche Verfügung zu verfassen. Aber wenn es sie gibt, ist sie zu respektieren. Punkt.

Was haben Sie gegen Lebensschutz?

Natürlich nichts. Er darf nur nicht dazu führen, dass der Staat dem Einzelnen eine Pflicht zum Weiterleben auferlegt – gegen den Willen des Grundrechtsträgers. Das Lebensrecht des Einzelnen ist ein Recht, keine Pflicht.

Die Union lehnte Ihre Berufung zum Verfassungsrichter ab – die hatte etwas gegen Ihre Haltung in der Stammzelldebatte. Auslöser des Zwists um Sie war aber ein Kommentar der taz, in der Ihnen eine indifferente Haltung zur Folter vorgeworfen wurde. Fühlten Sie sich missverstanden?

Och, missverstanden ist eigentlich viel zu milde ausgedrückt. In meiner Kommentierung zu Art. 1 des Grundgesetzes habe ich bestimmt vier- oder fünfmal ausdrücklich gesagt, dass Folter das exemplarische Beispiel für die Verletzung der Menschenwürde darstellt.

Und wo lag für Sie das Problem?

Dass es Fälle der Würdekollision geben kann. Ich gehöre zu der ganz breiten Mehrheit von Staatsrechtslehrern, die sagt: Die Menschenwürde ist unabwägbar, gilt absolut, ohne Einschränkungen. Und dann sage ich, es gibt da aber einen Fall, einen einzigen Fall, in dem mir diese Absolutheit nicht weiterhilft.

Welcher soll das sein?

Wenn ich eine Konstellation habe, in der die Menschenwürde auf beiden Seiten eines Konflikts ins Feld geführt wird. Nehmen Sie den typischen Entführungsfall. Es steht ja im Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Und dann folgt: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Achten heißt: Der Staat selber darf sie nicht verletzen, den Entführer nicht foltern. Schützen heißt: Der Staat muss den Bürger vor Verletzungen seiner Würde durch andere Private schützen, also das Entführungsopfer befreien. Es gibt einen Achtungsauftrag und einen Schutzauftrag, da gibt es gar kein Vertun.

Wo liegt Ihre Zuspitzung?

Die „Folterdebatte“

Die von der taz, der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung heftig kritisierte Passage aus dem von Horst Dreier herausgegebenen „Grundgesetz-Kommentar“ erscheint im Verlag Mohr Siebeck, Tübingen: Bd. I (Präambel, Art. 1–19), 2. Aufl., 2004 (1.741 Seiten); Bd. II (Art. 20–82), 2. Aufl., 2006 (1.996 Seiten); Bd. III (Art. 83–146), 2. Aufl., 2008 (2.010 Seiten). Die zitierte Passage mit der Pflichtenkollision findet sich in Bd. I in der Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 in Rn. 133. In einer Neuauflage – geplant für 2012 – wird die Debatte erörtert.

Eine Analyse des Konflikts um diese Kommentarstelle findet sich in dem Aufsatz „Konzertierter Rufmord – Die Kampagne gegen Horst Dreier“ von Michael Stolleis im Merkur vom August 2008, Nr. 711, in dem der öffentlich verhandelte Streit über die angebliche Legitimierung von Folter durch den Staat als ein Scheindisput gesehen wird, bei dem sich die Linksliberalen von christlichen Fundamentalisten haben instrumentalisieren lassen. Die nämlich wüten seit Langem gegen die liberale Rechtsposition Dreiers in Sachen Bioethik.

Die von Horst Dreier beschriebene „Würdekollision“ im Rahmen des Artikel 1 GG zur Menschenwürde hätte der deutschen Kriminalwirklichkeit entnommen sein können. Wolfgang Daschner, Polizeipräsident von Frankfurt am Main, drohte im Jahre 2002 dem festgenommenen Entführer von Jakob von Metzler, Magnus Gäfgen, Schmerzen, wie er sie noch nie erlebt habe, an – eine Drohung mit dem, was unter Folter verstanden wird. Das Problem: Gäfgen hatte das Kidnapping zugegeben, wollte aber den Ort nicht nennen, an dem er sein Opfer gefangen gehalten hatte.

Gäfgen klagte nach seiner lebenslänglichen Verurteilung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen die Folterandrohung – mit dem Ziel, dass sein Verfahren wiederaufgenommen würde. Das EGMR wies den Antrag zurück.

Daschner wurde lediglich verwarnt, eine Geldstrafe „vorbehalten“; sein Vorgehen sei rechtswidrig, weil er die Verletzung der Menschenrechte des Täters in Kauf genommen habe. Das sei aber dem Staat und den in seinem Namen Handelnden nicht erlaubt.

Ein zwiespältig mildes Urteil – denn es würdigt nicht die massive und eindeutige Verletzung des Folterverbots durch den Staat. Der Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma hat in einer Debatte zur Folter vor sieben Jahren versucht, das Problem der „Pflichtenkollision“ nach Art. 1 GG zu lösen: Ein Polizeibeamter, der einem Entführer Folter androht, um dessen Opfer am Leben zu erhalten, darf nur als Privatmann handeln, nicht im Auftrag des Staates – und muss in Kauf nehmen, dass er später nicht mehr als Beamter arbeiten kann. Der Staat, der in eigener Sache das Folterverbot zu überwachen hat, müsste demgemäß den Beamten entlassen, egal ob dieser im Sinne öffentlichen Empfindens richtig gehandelt hat oder nicht. JAF

Nicht meine, sondern die der Sache. Wenn wir eine Pattsituation haben, in der der Staat entweder die Menschenwürde des Entführers achtet und durch Nichthandeln dem Schutzauftrag zugunsten des Opfers nicht nachkommt oder umgekehrt, dann liegt ein unlösbarer Konflikt vor. Was man auch tut, man macht es falsch.

Wenn der gefangene Entführer weiß, aber nicht sagen will, wo sein Opfer sich befindet?

Genau. Der Staat darf nicht foltern, um die Information zu erlangen; aber gerades dadurch verletzt er seinen Schutzauftrag zugunsten des Opfers. Das ist eine Situation, die man sich vorstellen und nicht wegreden kann. Und wie nennt man eine Situation, in der man, was immer man auch tut, ein hochrangiges Gut verletzt? Tragisch. Mein Deutschlehrer hat immer gesagt: „Tragisch ist was anderes als traurig.“

Womit was gemeint ist?

Wenn dir ein Stein auf den Kopf fällt, und du bist tot, dann ist das traurig. Aber wenn zwei hohe Werte kollidieren und einer weichen muss, dann ist das tragisch – der klassische Fall der Antigone. Deswegen habe ich in meiner Kommentierung auch keine Lösung für den Fall präsentiert. Ich habe nur gesagt, das ist eine Konstellation, der kann man nicht ausweichen. Und für ihre Bewältigung kann man den Gedanken der rechtfertigenden Pflichtenkollision nicht von vornherein ausschließen. Und diesen Satz wiederhole ich. Für tragische Konflikte gibt es eben keine glatte und saubere Lösung, das ist gerade der Clou.

Um die Folter ging es bei der Debatte um Sie nicht, sagen manche.

Ja, das sagen eigentlich alle, die die Sache etwas genauer verfolgt haben. Insofern finde ich, dass die Darstellung von Michael Stolleis im Merkur eine sehr treffende, gute und kompakte Analyse der Vorgänge ist.

Ihre Haltung in der Bioethik, die von rechtskonservativen Kreisen befehdet wird, war es, vermuten Sie?

Das war das Entscheidende. Wobei meine Haltung in allen Stellungnahmen des Nationalen Ethikrates die der Mehrheit war. Und die hatte auch Theologen und praktizierende Christen auf ihrer Seite.

Wären Sie heute gern in Karlsruhe tätig? Hat Sie der Hader um Ihre Person getroffen?

Ich habe noch nie zu jenen gehört, die unbedingt zum Bundesverfassungsgericht wollten.

Wie haben Sie die Diskussion um Sie selbst erlebt?

Ich war erstaunt. Ich dachte, mein Gott, was kann die CDU gegen einen ziemlich konservativen Sozialdemokraten wie mich haben? Vor allem aber war es unmöglich, sich gegen die Kampagne zu wehren. Wenn einige Journalisten das, was ich in meinen Kommentierungen sorgfältigst, Satz für Satz, geschrieben habe, so interpretierten: „Ja, geschrieben hat er dies und das, und dagegen kann man nichts sagen. Aber er meint doch eigentlich etwas ganz anderes.“ Da sind Sie wehrlos.

Ihre Bedenken müssten mit einem „Wehret den Anfängen!“ beantwortet werden, hieß es.

Also in der Besorgnis um rechtspolitische Standards lasse ich mich nicht so schnell überbieten. Aber man muss Konfliktfälle sachlich analysieren und darf sie sich nicht schönreden.

Ihr Beitrag wurde von Linksliberalen jedenfalls als anschwellende Legitimierung von Folter gelesen.

Na, ob da wirklich gründlich gelesen wurde? Ich hab mal in einem Interview vor gut einem Jahr gesagt, wenn ich die Lösung für die von mir aufgezeigte Notlage hätte, würde ich sie in einem Brief ans Justizministerium schicken. Aber ich habe sie eben nicht. Aber ich habe auch nicht den leichten Ausweg gesucht und gesagt: Mit dem absoluten Folterverbot in jeder denkbaren Situation ist alles in bester Butter. Wir können doch die Opfer nicht einfach vergessen. Die tiefe Tragik der Situation haben viele wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen oder nicht wahrhaben wollen.

Sie bedauern, nun nicht in Karlsruhe tätig zu sein?

Nein, ich bin gerne Wissenschaftler und genieße meine akademische Freiheit sehr. An dieser Stelle also vielen Dank an die entsprechenden Herren Journalisten und die verdeckt arbeitenden bioethischen Fundamentalisten.

Würden Sie die Passage zur Würdeverletzung heute anders formulieren?

Warten Sie auf die nächste Auflage! Vielleicht kann ich den entscheidenden Punkt noch deutlicher herausarbeiten. Aber in der Sache bleibe ich dabei. Man kann eine mögliche Tragödie nicht ignorieren, jedenfalls nicht in einer wissenschaftlichen Diskussion.

Wie sehen Sie auf die Debatte vor einem Jahr zurück?

Das war schon eher grenzwertig, um das Mindeste zu sagen. Denken Sie nur an die flagrante Lüge, die gestreut wurde: Dreier, ein „kämpferischer Atheist“. Das einzig Gute, das die Sache hatte, war die: Ich habe jede Menge schöne Briefe und Mails von Menschen bekommen, die hinter mir standen. Das war außerordentlich tröstlich und angenehm. Und wenn ich irgendwann einmal in Depressionen verfallen sollte, schaue ich mir die Zuschriften einfach mal wieder an.

JAN FEDDERSEN, 51, ist taz.mag-Redakteur