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Archiv-Artikel

Das organisierte Vergessen

KRIEGSVERBRECHEN Während in Den Haag der Karadzic-Prozess beginnt, kehrt seine Stellvertreterin Biljana Plavsic frühzeitig entlassen aus der Haft zurück

Serbien und Srpska

Republik Srpska: Sie ist neben der Förderation Bosnien und Herzegowina eine von zwei Teilrepubliken des Staates Bosnien und Herzegowina. Ausgerufen wurde sie kurz vor Ausbruch des Bosnienkrieges. Ihr erster Präsident war Radovan Karadzic, dessen Nachfolgerin Biljana Plavsic.

■ Radovan Karadzic: Seit Montag steht der ehemalige bosnische Serbenführer in Den Haag vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal. Ihm werden Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Zusammenhang mit der Belagerung von Sarajevo vorgeworfen. Er gilt als Hauptverantwortlicher für das Massaker von Srebenica von 1995, bei dem über 8.000 muslimische Männer starben. Karadzic hat angekündigt, sich selbst zu verteidigen.

■ Biljana Plavsic: Die Biologieprofessorin wurde 1992 Vizepräsidentin der Republik Srpska. Als Karadzic 1996 zurücktrat, wurde sie seine Nachfolgerin. Sie stellte sich 2001 dem Internationalen Strafgerichtshof, wo sie wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Unterstützung und Ausführung von Vertreibungen) zu elf Jahren Haft verurteilt wurde.

AUS BELGRAD ANDREJ IVANJI

Mein Gott, ist das lästig. Schon wieder werden irgendwelche Leichen ausgegraben. Warum lässt man uns nicht endlich in Ruhe? Wir sind doch keine Verbrecher. Wir lagen in der Wiege oder waren noch gar nicht geboren, als der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ausgebrochen ist.

So oder so ähnlich reagieren die meisten jungen Serben, wenn man sie auf die in den 1990er-Jahren begangenen Verbrechen im Namen des Serbentums anspricht. Oder sie plappern nach, was sie von ihren Eltern, von serbischen Politikern gehört oder in Zeitungen gelesen haben: Es herrschte Krieg, und im Krieg geschehen nun mal schlimme Sachen. Alle verfeindeten Völker haben fürchterliche Verbrechen begangen. Warum stehen nur die Serben als die bösen Schlächter da?

Diese Einstellung hat sich tief in die Serben eingegraben. Und der am Montag vom UN-Tribunal für Kriegsverbrechen eröffnete Prozess gegen Radovan Karadžić wird daran auch nichts ändern. Mit wenigen Ausnahmen befassen sich die serbische Medien nur mit allen möglichen technischen Details: Darf Karadžić sich selbst verteidigen oder nicht, hatte er genügend Zeit, seine Verteidigung vorzubereiten oder nicht? Doch mit dem, was Karadžić, dem ehemaligen Präsidenten der bosnischen Serben und Gründer der Serbenrepublik in Bosnien (Republika Srpska) zur Last gelegt wird, damit beschäftigen sich die Medien nicht: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ethnische Säuberung, Kriegsverbrechen.

„Nichts bekommt dem Verbrechen und dem Verbrecher so sehr wie das Vergessen. Es ist ihr bester Verbündeter“, schreibt Teofil Pančić, Kolumnist des angesehenen serbischen Politikmagazins Vreme. „Kann sich überhaupt noch jemand erinnern, warum man eigentlich Radovan Karadžić, dem grotesken Hochstapler, dem prätentiösen Vordenker des Lumpenproletariats den Prozess macht, während spießbürgerliche Juristen und Laien begeistert auf den Beginn der Show warten?“, fragt Pančić weiter. „Wo liegt der Sinn des organisierten Vergessens?“ Seine Antwort: in der endgültigen Legitimation der Republika Srpska.

Triumphale Rückkehr

Laut Pančić ist man sich einig, einzelne wie Karadžić oder Mladić verantwortlich zu machen, wenn es denn schon unvermeidlich ist, und dafür die Serbenrepublik unangetastet zu lassen. Pančić urteilt hart: „Jeder von uns hat die Wahl, sich auf die Seite des Vergessens zu stellen, so wie jeder während des Krieges die Wahl hatte, sich auf die Seite des Verbrechens zu stellen. Vielleicht ist es möglich, einmal eine falsche Wahl zu treffen; beim zweiten Mal wäre es mehr als Dummheit – es wäre Beihilfe.“

Die Stimme von Pančić ist eine einzelne und einsame Stimme in Serbien. Der am Montag begonnene Karadžić-Prozess stand in Belgrad ohnehin im Schatten eines anderen Ereignisses: der Freilassung seiner langjährigen Stellvertreterin und Nachfolgerin im Präsidentenamt der Republik Srpska, Biljana Plavšić. Die „eiserne Lady“ der bosnischen Serben traf Dienstag im großen Stil in Belgrad ein, nachdem sie siebeneinhalb von elf Jahren Haftstrafe in einem schwedischen Gefängnis verbüßt hatte. 2002 war sie vom UN-Tribunal für Menschenrechte wegen „Vertreibung von Muslimen“ verurteilt worden. Plavšić gestand die Tat, spielte Reue vor. Im Gegenzug für das erste und letzte Geständnis einer so hochrangigen Persönlichkeit des serbischen Kriegstreibens wurde die Anklage auf Völkermord und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit fallen gelassen.

Die serbische Regierung forciert eine Relativierung der Verbrechen

Plavšić wurde von einem Regierungsflugzeug der Republik Srpska abgeholt und von der serbischen Polizei zu ihrer Wohnung in Belgrad gefahren. Empfangen wurde sie persönlich von Milorad Dodik, dem Ministerpräsidenten der bosnischen Serbenrepublik. Sie umarmten sich demonstrativ, hielten Händchen. Serbische Behörden ließen die Show vor laufenden Fernsehkameras zu. Im bosnischen Sarajevo war man empört. Nicht nur, dass Plavšić eine äußerst geringe Strafe von elf Jahren erhalten hatte, die sie noch nicht einmal ganz absitzen musste, sondern dann auch noch dieser feierliche Empfang in Belgrad, dem eine richtige Siegesparty in Banja Luka folgen soll! Das war eine Ohrfeige für die Bosniaken, die Hinterbliebenen der Kriegsopfer.

„Wenn jemand wie die Plavšić freigelassen wird, muss man sich fragen, wo wir eigentlich leben“, sagt Biljana Kovacevic-Vuco, Direktorin des Komitees der Rechtsanwälte für Menschenrechte. Sie glaubt, dass das Gericht Plavšić als Kronzeugin brauchte und deswegen auf eine angemessene Bestrafung verzichtete, um die Schuld anderer nachweisen zu können – zugunsten einer allgemeinen Gerechtigkeit. Im Fall Plavšić sei dieses Ziel nicht erreicht worden, stellt die Anwältin fest, denn ihre vorzeitige Freilassung hätte gezeigt, dass „Taschendiebe strenger bestraft werden als Verantwortliche für Massenverbrechen“.

In den neun Jahren seit der demokratischen Wende hatten serbische Behörden entweder nicht die Kraft oder den Willen, die Serben mit ihrer blutigen Vergangenheit zu konfrontieren. Zwar arbeiteten verschiedene Regierungen mit dem UN-Tribunal in Den Haag zusammen und lieferten gesuchte Kriegsverbrechen aus oder zwangen diese, sich „freiwillig“ zu stellen. Dabei entschuldigten sie sich aber fortwährend bei den eigenen Bürgern: Wir müssen das leider tun, weil das von uns gefordert wird und wir sonst keine finanzielle Unterstützung aus dem Westen bekommen.

„Man sendet doch damit eine Botschaft“, sagt der bekannte Belgrader Anwalt Srđjan Popović. „Dass an Nichtserben begangene Verbrechen keine richtigen Verbrechen sind, sondern Verbrechen nach den Standards einer anderen Welt, der wir nicht angehören, auch wenn wir aus materiellen Gründen so tun müssen, als ob dem so sei. Die Angeklagten ziehen daher den natürlichen Schluss, dass ihre eigene Gesellschaft sie nicht verurteilt.“

Ebenso wie in allen anderen Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawien sind ausschließlich Nichtregierungsorganisationen und Einzelpersonen mit der Vergangenheitsbewältigung in Serbien beschäftigt. Sie werden von der Öffentlichkeit als „Auslandssöldner“ gebrandmarkt. Diese Praxis besiegelte Serbiens Präsident Boris Tadić, als seine Demokratische Partei (DS) im Vorjahr nicht nur pragmatisch eine Koalition mit der von Slobodan Milošević gegründeten Sozialistischen Partei Serbiens (SPS) einging, sondern mit ihr auch ein „Versöhnungsabkommen“ unterzeichnete.

Die serbischen Medien befassen sich vor allem mit technischen Details des Prozesses

Ohne Schuld und Sühne

„Serbien hatte damals eine Opposition, die Milošević nicht etwa vorwarf, die Kriege angezettelt, sondern sie verloren zu haben“, erläutert Nataša Kandić, Leiterin des Fonds für humanitäres Recht. Auch heute besitzt Serbien ihrer Meinung nach keine politische Elite, die bereit wäre, sich mit dem Erbe der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Serbien ist ein politisch instabiles Land. Politiker meiden das heikle Thema. „Statt sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, forciert die serbische Regierung eine Relativierung der Verbrechen und versucht, alle Kriegsparteien auszugleichen“, sagt Sonja Biserko, Leiterin des Helsinki-Komitee für Menschenrechte in Serbien. Egal ob es um Kriege in Kroatien, Bosnien oder den Kosovo geht. Mit einem einfachen Vergleich bringt sie das moralische Problem auf den Punkt: „Wie können wir stolz auf die Siege unserer Basketballmannschaft sein, um die wir als Zuschauer keine Verdienste haben, ohne uns gleichzeitig der von unseren Streitkräften verübten Taten nicht zu schämen, selbst wenn wir nicht das Kommando hatten?“

Es steht zu befürchten, dass weder unter den bosnischen Serben noch in Serbien eine echte Diskussion über Schuld und Sühne stattfinden wird. Srđjan Dizdarević vom bosnischen Helsinki-Komitee gibt dennoch seiner Hoffnung Ausdruck: „Es ist wichtig zu sagen, was in der Vergangenheit passiert ist. Es muss Gerechtigkeit geübt, es müssen Verbrechen bestraft werden. Das ist die Basis für eine Zukunft in Bosnien und in der Region.“