■ Das geplante Pflegegesetz belastet die künftige Generation: Mut zum Scheitern
Die Verhandlungsführer finden kein Ende. Sie finden vor allem aber keinen Anfang für die Pflegeversicherung. Warum eigentlich? Die Grundsatzfragen sind längst entschieden, es hakt an einem einzigen Punkt. Seit auch die SPD anerkannt hat, daß die neue Sozialversicherung die Lohnkosten nicht belasten soll, muß man sich nur noch auf die richtige Abwicklung einigen. Und das schaffen sie nicht, die gewieften Experten für soziale Kompromisse, die Rentenanpassungsgesetze und Gesundheitsstrukturreformen noch immer zuwege gebracht haben? Nein, das liegt nicht an üblichen Untugenden der Bonner Politik. In diesem Fall stehen nicht Parteiegoismen gegen die Sache, im Gegenteil. Union und SPD wissen, daß ihnen das Scheitern des Projekts bei den Wahlen auf die Füße fallen wird, sie sind deshalb hoch einigungsmotiviert.
Wagen wir doch eine andere Sicht: Weitblick erweist sich hier im Mut zum Scheitern eher als in einer Einigung in letzter Minute. Vielleicht ist der Glaube an das Gute im Bonner Politiker überstrapaziert, wenn man hinter den ausbleibenden Resultaten auch höhere Einsichten vermutet. Aber es könnte sein, daß dem einen oder anderen während der Endlosverhandlungen dämmerte, daß die Konstruktion im Ansatz falsch ist. Nicht zufällig hat sich die schlichte Frage nach der Kostenkompensation zur Quadratur des Kreises entwickelt. Sie ist ein Fingerzeig auf den ersten grundsätzlichen Webfehler. Wie bei Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung soll sich die Sicherheit gegen das Pflegerisiko aus dem Arbeitsverhältnis herleiten. Während der Erwerbstätigkeit zahlt jeder einen festgelegten Anteil seines Einkommens in die Pflegekasse. Ganz in der Tradition der deutschen Sozialversicherung soll der Beitrag je zur Hälfte von Arbeitnehmer und Arbeitgeber getragen werden – allerdings mit einer aparten Abweichung. Die Arbeitgeber sollen ihr Geld zurückbekommen, über Lohnabschläge, gestrichene Feiertage oder wie auch immer. Denn die Konjunkturlage zwang zur Teileinsicht, daß die Belastung der Lohnkosten an einer kritischen Grenze angelangt ist. Aber wer ehrlich ist, wird zugeben müssen, daß es auf die grundsätzliche Frage von Arbeitgeberverbänden und FDP, was denn das Pflegerisiko überhaupt mit dem Arbeitsverhältnis zu tun habe, bisher keine schlüssige Antwort gibt.
Kontern ließe sich diese Anfrage allenfalls mit dem Hinweis, daß jede soziale Leistung von denen erwirtschaftet werden muß, die arbeiten. Doch zum ersten Webfehler kommt ein anderes, weit gravierenderes Problem. Wie die Altersrente soll die Pflege über die Solidarität der Generationen gewährleistet werden. Ein „Schlag gegen die Familie“, urteilt deshalb der hessische Sozialrichter Jürgen Borchert, der an den Verfahren mitgewirkt hat, die zum Familienurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1992 geführt haben. Nach den höchstrichterlichen Befunden hat sich die doppelte Leistung der Familien für die Alten zur fundamentalen Ungerechtigkeit ausgewachsen. Aus den Familien fließen nicht nur die Beiträge in die aktuellen Rentenkassen, die Familien sorgen auf ganz private Rechnung auch für das Heranwachsen der Generation, die die künftigen Renten tragen muß. Für Karlsruhe war erwiesen, daß Steuervorteile und Kindergeld diese gesellschaftliche Leistung nicht aufwiegen. Statt die Familien zu entlasten, fordert die Pflegeversicherung von ihnen eine weitere Leistung.
Der wichtigste Einwand gegen die Pflegeversicherung aber lautet: Sie bürdet der nächsten Generation einfach zu viel auf. Von den Beiträgen, die meine drei Geschwister und ich heute zahlen, werden die aktuellen Renten bezahlt. Wenn es zur Pflegeversicherung kommt, müßten wir für überschaubare Pflegeleistungen aufkommen. Mein Sohn – generationstypisch: Einzelkind – zahlt als Erwachsener für mich und meine Altersgruppe die Renten und Pflegeleistungen, die von heute aus einfach nicht kalkuliert werden können. Nach allen Erfahrungen kann nur eins sicher prognostiziert werden: Auch die Pflegekassen werden einen unwiderstehlichen Drang zur Ausdehnung entwickeln. Tissy Bruns
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen