■ Das Stammheimer Urteil belastet die Kinkel-Initiative: Letzte Chance für politische Lösung
Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger muß geahnt haben, wie das Urteil im Stammheimer Verfahren gegen Peter-Jürgen Boock und Christian Klar ausfallen wird. Anderenfalls hätte sie nicht kurz zuvor betont, sie wolle am Entspannungskurs ihres Amtsvorgängers Kinkel festhalten. Ihr Bekenntnis kommt spät – zu spät vielleicht. Nach 22 Jahren bewaffneten Kampfes haben die Illegalen vor sechs Monaten eine sensationelle Erklärung abgegeben, derzufolge sie die Waffen niederlegen und sich künftig dem Aufbau „einer Gegenmacht von unten“ widmen wollten. Die RAF griff damit den Vorstoß Kinkels auf, der die Terroristen zur Abkehr von ihrer tödlichen Praxis und im Gegenzug den Staat zu einer Versöhnung aufgerufen hatte.
Eine politische Lösung als Voraussetzung für ein Ende der Konfrontation wird seither aber vor allem von der Bundesanwaltschaft torpediert. Die Bundesanwälte setzten und setzen allein auf die Mittel der Strafverfolgung. So nutzen sie die Aussagen der festgenommenen RAF-Aussteiger, um weitere Prozesse gegen Gefangene anzustrengen, die ohnehin schon zu lebenslanger Haft verurteilt wurden. Bisher ergebnislos haben sich die anderen Sicherheitsbehörden darüber beklagt, daß niemand den Karlsruhern „in den Arm fällt“. Daß dem so ist, bleibt um so erstaunlicher, als die Kinkel-Initiative nicht nur von der Koordinierungsgruppe Terrorismus-Bekämpfung unterstützt wird – sie hat den höchsten Segen, den persönlichen des Kanzlers.
Kinkels Signal für eine Aussöhnungsbereitschaft ist schwach geworden. Es wird mittlerweile durch andere Signale überlagert. Ein politischer Lösungsversuch wird nicht nur durch die „Sekundärverfahren“ und die halbherzige Entscheidung, den kranken Gefangenen Bernd Rößner nur befristet freizulassen, aufs Spiel gesetzt. Selbst einfachste Maßnahmen – von der längst überfälligen Abschaffung der Trennscheibe über Kommunikationsmöglichkeit für die Gefangenen bis hin zu deren Zusammenlegung – sind unterblieben. Allen Beteiligten müßte aber bewußt sein, daß die Lösung des Problems RAF ihren Preis hat. Illegale wie Unterstützer haben ihn mit der „Perspektive der Freiheit für alle Gefangenen“ umrissen. Angesichts der einmaligen Chance, das Kapitel bewaffneter Kampf abschließen zu können, ist der Preis nicht zu hoch. Immerhin gilt die Resozialisierung von Gefangenen im Strafrecht als Ziel des Strafvollzugs. Das Lippenbekenntnis der Justizministerin zur Fortsetzung der Kinkel-Initiative jedenfalls reicht nicht aus – notwendig wären konkrete Schritte, die ein ernsthaftes Interesse an einer politischen Lösung belegen. Andernfalls stehen die Zeichen wieder auf Eskalation. Wolfgang Gast
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