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Das Schweigen des Täters

„Die letzte Hoffnung ist hinter diesem Tor aus gelbem Holz.“ So beginnt der Turiner Journalist Niccolò Zancan seinen Artikel über einen 90-Jährigen, der hinter dieser Tür im brandenburgischen Wollin lebte. Der Mann war ein in Italien rechtskräftig verurteilter Mörder, und jeder im Dorf wusste das. Im August ist er gestorben

von Sandro Mattioli

Wollin in Brandenburg im Frühjahr: Wir sind auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Wollin ist ein Nest, das nur aus der Hauptstraße zu bestehen scheint, daran aufgefädelten Parkplätzen und Feldern hinter den Häusern, die einstmals zur dorfeigenen LPG gehörten, der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. Der Mann, der hier in einem blau gestrichenen Hause wohnt, geht selten hinaus. Er ist in dem Dorf geboren, am 7. Juli 1923, ist hier aufgewachsen, hat in der LPG gearbeitet und war immer da, jedenfalls fast immer.

Ein Mann, nach eigenen Angaben der drittälteste im Ort, schiebt seinen Rollator Richtung Dorfschänke. Natürlich kenne er den Gropler, es gebe zwar gleich drei Männer mit diesem Namen, die der Einfachheit halber Gropler eins, zwei und drei genannt würden. Aber er wisse, von wem der Journalist spreche. Einmal sei dem Gropler zwei ein Gerichtsdokument zugestellt worden, sagt er und lacht, denn es hätte eigentlich im Briefkasten von Gropler eins landen müssen.

Ein Nachbar berichtet, dass ihm Gropler einmal seine tätowierte Dienstnummer gezeigt habe. Am Unterarm sei sie eingestochen gewesen, blaugraue Zahlen, Genaueres wisse er nicht mehr. Das sei schon lange her, meint er, während er in seinem Garten hinter dem Haus werkelt. Offensichtlich hat er sich nicht besonders daran gestört, einen ehemaligen SS-Mann als Kollegen zu haben. Jedenfalls hat er nicht viele Fragen gestellt, so wie fast überall, wo Altnazis aufgeflogen sind. Er hat einfach weiter in der LPG mit seinem Nachbarn zusammengearbeitet.

Niccolò Zancan hat sich von Turin aus auf den langen Weg gemacht, um von dem Ältesten der Groplers, Karl Ewald Gropler, eine letzte Botschaft zu bekommen. Sei es eine leise Bitte um Vergebung, die er von dem SS-Unterscharführer erhalten würde, oder sonst einen Kommentar. Zancan hat bei Karl Gropler an der Tür geklingelt. Sein Enkel hat geöffnet, aber hereingelassen hat er den Italiener nicht.

Karl Gropler gehörte seit 1942 der SS-Division „Totenkopf“ an und später der 16. Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“, jener Einheit der Waffen-SS, die im Sommer 1944 in Sant'Anna vor allem die Frauen, Kinder und Alten des Ortes niedergemetzelt hat; nur wenige überlebten. Als Unterscharführer, so der Historiker Carlo Gentile, hat Gropler Tötungsbefehle an die Schützen weitergegeben und war somit unmittelbar für den Tod von vielen Zivilisten verantwortlich. „Entsprechend der im deutschen Heer traditionellen Auftragstaktik, die die Selbstständigkeit der Führer zum Prinzip erhob“, hätten Leute wie Gropler, der angab, dass ihm fünf Schützen unterstellt waren, gelernt, „selbstständig und eigenverantwortlich ihre Aufgaben durchzuführen“.

Karl Gropler wurde 2005 wegen des Massakers in Sant'Anna di Stazzema in der Toskana mit neun weiteren SS-Männern zu lebenslanger Haft verurteilt – in Abwesenheit. Doch die SS-Schergen haben sich hinter dem deutschen Recht verschanzt, das keine Auslieferungen nach Italien erlaubt, und sie haben wohl stumm dem Stuttgarter Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler gedankt, der keinen großen Eifer an den Tag gelegt hatte, die alten Männer für ihre Taten noch zu belangen.

Vor allem aber gab es von ihnen kein Wort der Reue, keine Bitte um Entschuldigung, kein Bedauern. Nun könnte dieser alte Mann, der hier hinter dieser Tür wie immer in seinem Polstersessel sitzt, mit wenigen Worten eine große Tat vollbringen. Er könnte sagen, was noch niemand gesagt hat, schreibt Niccolò Zancan. Und was vermutlich bald auch niemand mehr sagen kann, denn die Alten sterben weg, acht sind schon tot. Außer Gropler lebt von den zehn Verurteilten nur noch Gerhard Sommer, der die Aktion damals kommandierte. Doch Karl Gropler will nicht. Die Tür bleibt geschlossen.

Ihr Vater sei nicht dazu bereit, mit Journalisten zu sprechen, ließ die Tochter ausrichten, eine freundliche Frau, die den Journalisten zu einer Apfelschorle in die Dorfkneipe einlädt. Sie nimmt sich Zeit für ihn, im Gespräch wird deutlich, dass sie sein Anliegen verstehen kann. Die Enkelin ist sogar, nachdem sie von den Taten ihres Großvaters erfuhr, nach Italien gereist. Fast meint man, die Tochter schwanke, aber das Nein, es bleibt. Unverrückbar.

Man hört, was man immer wieder bei Recherchen zu Altnazis zu hören bekommt: dass das, was im Krieg geschehen sei, doch abscheulich sei. Und dass man den Frieden wolle, gegen Gewalt sei. Aber nein, sagt die Tochter, ihr Vater sei dement, und überhaupt, sie müsse dann wenn schon ihre Geschwister fragen, aber da sei nichts zu machen. Einige Monate später wird sich die Familie an Karl Groplers Grab treffen.

Es wäre spannend gewesen, mit dem früheren SS-Mann zu sprechen. Wie geht es ihm mit dieser Tat? Empfindet er Reue? Oder ist alles verdrängt, ausgeblendet? Und überhaupt, wie lebte es sich als früherer SS-Mann zu DDR-Zeiten, als der Antifaschismus so hoch gehalten wurde? War das alles nur proklamierte Ideologie? Viele Fragen, keine Antworten.