Das Öko-Update: Öko. Fake News seit 1972

In der Wachstumsgesellschaft wächst alles, auch das Nachhaltigkeitsbewusstsein. Das ist fatal, denn das Wachsen im Falschen ersetzt das richtige Handeln. Es braucht eine neue Ökobewegung.

Bild: dpa

von Harald Welzer

Öko ist bekanntlich etwas für Fachleute. Für Ottmar Edenhofer und Johan Rockström zum Beispiel, dem neuen Spitzenduo am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Da geht es um „planetare Grenzen“, wie man interdisziplinär forscht und um „die nächste Stufe wissenschaftlicher Exzellenz“ in Angelegenheiten des Klimas. Aber: Interessieren sich das Klima, die Biosphäre, das Erdsystem für Exzellenz? Oder anders gefragt: Haben wir hinsichtlich der Grenzen der Belastbarkeit von Klima, Biosphäre und Erdsystem ein Wissensproblem, wenn jedes siebenjährige Kind mühelos erklären kann, dass unendliches Wirtschaftswachstum in einem endlichen Raum mit definierten Überlebensbedingungen für die menschliche Lebensform ein Ding der Unmöglichkeit ist? Und die Idee vom unendlichen Wachstum, wie Yuval Harari formuliert, so ziemlich allem widerspricht, was wir über das Universum wissen?

Die Wissenschaft konkurriert um Marktvorteile in ihrem System, genauso wie jede andere Funktionseinheit in einer Marktgesellschaft, deren Glaubensinhalt und Praxistreiber „Wachstum“ ist. Insofern folgt auch die Klimawissenschaft der expansiven Logik, die die Ursache für alle Probleme ist, die sie erforscht. Sie ist, mit anderen Worten, eingebettet in ein Wirtschaftssystem, das sie durch ihre Ergebnisse gar nicht tangieren kann. Denn dass die Ökonomie in jeglicher Hinsicht das Primat hat und nicht etwa die Ökologie, lernen wir mit jedem Koalitionsvertrag, mit jedem Schlusskommuniqué eines G20- oder G7-Gipfels aufs Neue. Zog die friedfertige Studie „Limits to Growth“ noch die Forderung nach einem ökonomischen Pfadwechsel als notwendige Konsequenz aus ihren 1972 publizierten Ergebnissen, ist tatsächlich etwas ganz anderes geschehen: Die Globalisierung hat alternative Pfade abgeschafft und der real existierende Kapitalismus hat ersatzweise massenhaft Institute, Studiengänge, Lehrstühle, Preise, Zeitschriften und, natürlich, Agenturen installiert, die all das hinsichtlich ihrer Erfolge evaluieren.

Aber: Erfolg heißt, ganz im Mindset von Rockström, nicht ein Stoppen oder nur Abbremsen der Zerstörung der humanen Überlebensmöglichkeiten, sondern mehr Exzellenz, also mehr Forschungsgelder, Auszeichnungen und Mitarbeiterinnen, die sich irgendetwas Katastrophalem widmen dürfen und damit das symbolische und materielle Kapital ihres Ladens heben. Sozialpsychologisch darf man das als eine Problemverschiebung deuten: Anstatt, wie für jede und jeden einsichtig, den materiellen Stoffwechsel unserer Kultur anders zu organisieren, behält man den offenkundig falschen lieber bei und investiert viel Geld und Energie, um ihn zu beschreiben.

Nachhaltigkeitspraxis statt Nachhaltigkeitsbewusstsein

Dabei schaffen sich Wirtschaft, Politik und Gesellschaft die perfekte Illusion, dass eine Menge getan wird, während alle verfügbaren Daten zum Umweltverbrauch und zum Konsum, diesen beiden siamesischen Zwillingen, atemberaubende Steigerungsraten aufweisen, was bedeutet: Es wird schon was getan, aber genau in Gegenrichtung des Notwendigen.

Kurz: Alle gesellschaftlichen Teilsysteme, die Wirtschaft genauso wie die Wissenschaft wie die Lebenswelt, leben gnaden- und respektlos an allem vorbei, was erforderlich wäre, wollte man dann doch noch mal jenen Pfadwechsel einleiten, der seit 1972 Jahr für Jahr nicht eingeleitet wird. Was erfolgreich nicht nur eingeleitet, sondern stabil etabliert wurde, ist ein Nachhaltigkeitsbewusstsein, davon legen alle Umfragen Zeugnis ab. Das ist freilich zu unterscheiden von einer Nachhaltigkeitspraxis, von der wir global betrachtet weiter entfernt sind als jemals zuvor.

Und hier spiegelt sich Wissenschaft in der ungebrochen fortgesetzten Lebensweise: Das Nachhaltigkeitsbewusstsein sorgt zuverlässig dafür, dass sich an der nicht-nachhaltigen Praxis nichts ändern muss – schließlich ist man ja nicht einfach nur doof und/oder egoistisch, sondern durchaus in der Lage, sich Gedanken zu machen und infolgedessen besorgt zu sein - – nicht gut, das mit der Umwelt. Aber eben auch nicht mehr. Denn der kategorische Imperativ moderner Hyperkonsumgesellschaften lautet: Du sollst kaufen, und zwar heute mehr als gestern, und morgen noch mehr.

Öko müssen wir erst dann sein, wenn wir alle tot sind

Die Lebenslüge moderner wachstumswirtschaftlicher Gesellschaften, dass sie auf nicht-zerstörerische Weise immer mehr generieren, verkaufen, verbrauchen und entsorgen könnten, findet ihre individuelle Entsprechung genau dort, wo Menschen nachhaltig denken und immer mehr kaufen sollen. Aus all dem ist ein surreales Wirklichkeitsmanagement, auch und gerade in der Öko- und Nachhaltigkeitsszene selbst entstanden: die „Wenn-nicht-dann-Weltsicht“. Nach fast einem halben Jahrhundert Ökologiebewegung, nach der unablässigen Publikation alarmierender und alarmierendster Daten aus der Klima-, Biodiversitäts-, Boden-, Ozean-, Regenwald-, Wald- usw. –-forschung, hat man sich auf die absurdeste Formel aller Zeiten und Welten eingestimmt: Auf die Liturgie – in Form von (nicht-stromverbrauchenden) Power-Point-Folien – folgt das Bekenntnis: SO GEHT ES NICHT WEITER! UMKEHR TUT NOT! JETZT! WENN WIR JETZT NICHTS TUN, IST ES ZU SPÄT!

Erstaunlicherweise ist es schon seit fünfzig Jahren zu spät, und seither sind Tausende Gebetbücher entstanden, die diese Mitteilung in zahllosen Wiederholungen enthalten. Auch hier derselbe Befund: Das Ritual besteht in der Wiederholung, die Wiederholung stiftet Festigkeit im Glauben. Und je mehr wir glauben, ganz fest glauben, desto weniger braucht einen die Realität zu bekümmern. In Wahrheit ist der Untergang nämlich ganz und gar undenkbar, völliger Unsinn dagegen kommt als Wissenschaft daher. Noch einmal Rockström: „Eine Wirtschaftsmacht wie Deutschland muss einen Weg aufzeigen, wie sich die Dekarbonisierung mit erfolgreicher Realisierung menschenwürdiger Lebensbedingungen – also ‚human well-being´ – , wirtschaftlichem Wachstum und den Paris-Zielen vereinen lassen.“ Der Großwissenschaftler könnte es auch einfacher sagen, wenn er könnte: Öko müssen wir erst dann sein, wenn wir alle tot sind. Nicht vorher, jetzt, oder eben schon seit ein paar Jahrzehnten.

Nichts wird verändert, wenn die Wirtschaft nicht verändert wird

Als Organ der Aufklärung und des Selbstdenkens ist taz FUTURZWEI dafür, das ökologische Denken in einen Zustand der Erwachsenheit zu transformieren. Fake News gibt es in der Nachhaltigkeitsszene schon viel länger als in der amerikanischen Regierung. Let’s face it. Lügen hilft nicht weiter. Auch nicht das Geseiere von Exzellenz beim Weltretten. Helfen würde nur, die Dinge wieder zusammenzuführen: Nichts wird verändert, wenn die Wirtschaft nicht verändert wird. Daher geht es nicht, dass sich die Ökos, zumal die Postwachstums- und Gemeinwohl-Ökos, nicht für Wirtschaft interessieren. Es geht auch nicht, dass man sich nicht für systemische Pfadabhängigkeiten interessiert und auch nicht dafür, was denn bitte der doofe Kapitalismus alles an zivilisatorischen Fortschritten gebracht hat, wozu sich die Ökobewegung selbst ja wohl auch zählen würde.

Es geht also zum Beispiel um die Frage, ob es einen wachstumsbefriedeten Kapitalismus geben kann, einen ohne imperiale Lebensweisen, einen ohne mörderische Ausbeutung, einen mit einem anderen Naturverhältnis. In diesem Sinn: um die Frage nach einer nächsten Aufklärung. Hier fängt sie an, vielleicht.

.
.