■ Das Herbstgutachten prophezeit noch mehr Arbeitslose: Kleinmütig und einfallslos
Bosse, Bankiers und Börsianer dürfen durchatmen: Der erlauchte Kreis der Konjunkturastrologen hat den Aufschwung vor Augen. Mit der arg gebeutelten deutschen Wirtschaft soll es, wenn man dem Orakel glauben darf, im kommenden Jahr nicht weiter bergab gehen. Nur einen Makel hat laut den Gutachtern die Wirtschaftslage: Die Massenarbeitslosigkeit wird 1994 auf vier Millionen ansteigen. Die Nachrichten aus der Industrie sprechen da eine deutlichere Sprache: Daimler-Benz schreibt tiefrote Zahlen, die Deutsche Aerospace spart ein Siebtel ihrer Mitarbeiter ein, in der Autoindustrie stehen weitere Massenentlassungen an, in der Chemieindustrie gehen 40.000 Arbeitsplätze verloren, manche Betriebe wollen ihre Belegschaft in den kommenden Jahren halbieren. Wenn es um blaue Briefe geht, wird heute nicht mehr lange gefackelt. Wozu lästige Mitarbeiter noch über die Krise retten? Dem Firmenimage sind Entlassungen längst nicht mehr abträglich. Tempo, Tempo, lautet also die Devise. Nach dem Ende des Sozialismus erlebt der Kapitalismus eine traurige Renaissance: Wer durchgreift, erntet Beifall. Schließlich ist der Fortschrittskonsens dieser Gesellschaft aufgebraucht.
Bei der Entwicklung, die der jetzigen Wirtschaftskrise zugrunde liegen, handelt es sich nicht bloß um konjunkturelle Ärgernisse. Man muß nicht Norbert Blüm heißen, um angesichts der rapide wachsenden Arbeitslosigkeit eine Gänsehaut zu bekommen. Der Kampf gegen dieses Übel ist, theoretisch gesehen, keine Hexerei. Nur die Löhne, sagen die Wirtschaftsverbände, müssen tief genug fallen dürfen. Die Patrons vernehmen diese Botschaft nur allzu gerne. Sie ist so ganz nach dem Modell des Ökonomieklassikers David Ricardo, dem dazu noch der Schumpeter-Preis winkt. Wer sich den Vorteil niedriger Löhne sichert, hat seinen Betrieb gerettet und kann den Konkurrenten die Preise verderben.
Da paßt es so richtig ins fehlende Konzept, daß Deutschlands Politikern zur Wirtschaftskrise derzeit nicht mehr einfällt als die rechten Schlagworte Deregulierung, Privatisierung und Lohnabbau sowie die Forderung nach einem „Umbau des Sozialstaats“. Dabei sind viele Entlassungen oder Lohnkürzungen schlicht das traurige Resultat von Managementfehlern wie Fehlinvestitionen oder verpennten Marktchancen. Statt in der Krise gemeinsam eine offensive Politik zu betreiben, regiert der Kleinmut. Wird der Rezession nichts entgegengesetzt, müssen immer mehr Menschen um ihre Arbeitsplätze fürchten. Wie weit diese Entwicklung aber an die gesellschaftliche Substanz gehen könnte, wird erst nach und nach so richtig bewußt – auch politisch. Erwin Single
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