Das Echte ist das Unwahre

Elektronisch verzerrte Musik kann er nicht mehr ertragen. Aber was heißt das schon bei einem Mann, den manche für den „größten lebenden Songwriter Amerikas“ halten: Heute kommt Stephin Merritt mit „The Magnetic Fields“ in die Fabrik

von Florian Zapf

Ein kurz gewachsener Amerikaner sitzt in einem Hamburger Hotelrestaurant und schweigt. Er raucht seine dritte Zigarette innerhalb von zwanzig Minuten – und schweigt. Stephin Merritt denkt gerne, bevor er spricht. Stille also. Dann: „Ich bin Abba seit meinem zehnten Lebensjahr erlegen.“ Und man fragt sich, aus welchem Teil seines zierlichen Körpers dieser Mann eine derart sonore Stimme zaubert.

„Ich kann mir keinen perfekteren Song als Abbas ,The Winner Takes It All‘ vorstellen“, sagt Merritt. „Fünf Muster, die sich lediglich in verschiedenen Tonarten und leicht veränderten Rhythmen wiederholen – ohne dass es auffällt.“ Was viele an Abba verachteten, schätzt Merritt. Die Schweden komponierten Simples, aber sie wussten zu jeder Zeit, was sie da taten. Das machte den Unterschied, das machte die größte Hit-Maschine der 70er aus.

Bei aller Bewunderung hinsichtlich skandinavischer Chart-Rezepte wählte Merritt für sich selbst eine andere musikalische Heimat als Abba: den Untergrund. Zu sperrig scheinen seine Produktionen, als dass sie Platin-Auszeichnungen einheimsen könnten. Trotzdem findet Merritts Arbeit viel Beachtung. Kritiker vergleichen den ehemaligen Harvard-Studenten mit Größen wie Cole Porter. Die New York Times jubelt: „Genie!“ Der New York Observer hält Merritt für den „größten lebenden Songwriter Amerikas“.

I heißt das aktuelle Album der Magnetic Fields, dem Hauptprojekt des Workaholics Merritt. Wie schon sein Vorgänger 69 Love Songs ist es vor allem ein ruhiges Werk geworden. Leise Töne sind für Merritt allerdings nicht allein Stilmittel. Er verträgt Lautes einfach nicht mehr: „Ich stand 1983 bei einem Konzert der Einstürzenden Neubauten in der ersten Reihe. Sie bearbeiteten mit einer Kreissäge Wellblech, was wirklich beeindruckend klang. Um die Funken abzuwehren, hielt ich mir die Hände vors Gesicht. Dabei hätte ich wohl besser meine Ohren schützen sollen. Das taten zumindest alle anderen.“ Seit diesem Tag ist Merritts Gehör dermaßen geschädigt, dass er elektrisch verstärkte Musik nur noch verzerrt wahrnimmt.

Ein Soft-Rock-Album sollte I laut Merritt werden. Erstmals sind auf einer Magnetic-Fields-CD keine Synthesizer zu hören. „Alles ist sozusagen echt, das heißt, handgespielt“, sagt Merritt und fügt an, dass der gesamte Produktionsstil relativ traditionell ausfiel. „Ich denke aber, bei meinem nächsten Album werde ich wieder zu meiner eigenwilligen Produktionsweise zurückkehren. LoFi heißt das wohl. Wobei dieser Begriff natürlich naiv ist. Ich nehme in Highend-Tonstudios auf, das kann man nicht LoFi nennen.“

Merritt verfolgt ein Klangkonzept, das vom vermeintlichen Realismus herkömmlicher Produktionen abweicht. „Du kannst die Welt nicht in einem Studio simulieren“, sagt er. „Musikalischer Realismus ist ein erdachtes Konstrukt. Es ist illusorisch, wenn jemand ein Mikrofon auf eine Gitarre richtet und dann glaubt, dass die Aufnahme ,echt‘ klingen würde.“

Heute werden die Magnetic Fields in der Fabrik Songs aus ihrem neuen Album spielen. Lieder, die oft mit ungemein fröhlichen Harmonien daherkommen. Lieder, deren Heiterkeit aber auch immer durch Merritts schwermütige Stimme gedämpft wird. Kann jemand, der so melancholisch singt, wirklich glücklich sein? Es folgt eine Merritt‘sche Zeitlupenpause. Dann erklingt es wieder, das Brummen des kurz gewachsenen Amerikaners: „Ich halte mich dermaßen beschäftigt, dass ich normalerweise kein Glück empfinde. Aber ich fange auch nicht auf offener Straße zu weinen an – jedenfalls nicht öfter als einmal im Jahr.“ Die nächste Zigarette glimmt zwischen Merrits Fingern. Er lächelt.

Mittwoch, 21 Uhr, Fabrik