Das Beste am pokémon-go-spiel ist, dass die teilnehmer dabei durch die stadt laufen. Im internet wird dazu leider der stereotype vorwurf verbreitet, die jugend sei verblödet: Die Kommentarklause sind natürlich alle auf Bäume geklettert
Fremd und befremdlich
KATRIN SEDDIG
Was ist das denn, dieses Pokémon Go?“, frage ich meine Tochter. Sie lächelt auf so eine Art. Ich weiß schon, warum. Weil ich zum einen nicht weiß, was „Pokémon Go“ ist, weil es in ihrer Welt undenkbar wäre, das nicht zu wissen, weil sie es andererseits auch lustig findet, dass ich mich dafür interessiere. Und dann erklärt sie mir in gewählten Worten, die ich verstehen kann, was für ein Spiel das ist.
„Und, spielen das welche in deiner Klasse?“ Sie nickt. Der und der würden das spielen. „Hast du schon mal auf der Straße einen gesehen, der das spielt?“Sie nickt wieder. Einer habe zum Beispiel vorhin mit seinem Handy dagestanden und gerufen: „Da ist einer.“ Wir lachen beide.
Das Pokémon-Spiel kommt mir irgendwie lustig vor. Süß ist das. Dass da Leute durch die Stadt laufen und Pokémon suchen. Das Beste daran ist, finde ich, dass sie tatsächlich durch die Stadt laufen. Dass sie das im echten Leben spielen. Als wären sie selber kleine Spielfiguren. Draußen! Wo die Sonne scheint und der Regen fällt. Unter einem echten Himmel!
Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr finde ich das eine wunderbare Idee. Nicht so wunderbar, dass ich das spielen würde. Ich spiele nicht. Dann höre ich, dass Spieler in Krankenhäusern rumlaufen und den Betrieb stören. Das ist natürlich ein Fehler. Aber eher ein menschlicher, charakterlicher Fehler. Das zeigt Egoismus und mangelnde Rücksichtnahme.
Und nun lese ich, dass in Bergen im Landkreis Celle drei Spieler auf einem Truppenübungsplatz rumliefen, während dort echt geschossen wurde. Da ihnen nichts passiert ist, kann man das schon lustig finden. Und irre. So ein Rumschießen im Wald gleicht ja auch einem Computerspiel, es wird ja auch nur etwas simuliert, nämlich ein Kriegsgefecht. Es soll zwar niemand erschossen werden, aber das echte Schießen, das echte Kämpfen wird simuliert.
Und mitten in diesem simulierten Gefecht kämpfen Pokémon-Go-Spieler einen anderen Kampf. Sie schießen Pokémon mit Bällen ab. Die eine Kampfebene überschneidet sich mit der anderen. Den Pokémon-Go-Spielern war ihr Kampf anscheinend so wichtig, dass sie die andere Kampfebene entweder ignorierten oder übersahen.
Ein virtueller Kampfort war zugleich ein simulierter Kampfort. Und so berühren sich das virtuelle und das simulierte Leben. Die „Spieler“ konfrontieren einander, als wären sie verschiedene Sorten von Spielfiguren auf ein und dem selben Spielbrett. Als würde der Hut die Dame treffen oder eine Halma-Figur einem Mühlestein die Kreuzung versperren, das ist faszinierend!
Kommentarklaus allerdings ist empört. Die heutige Generation wär‘ verblödet. Müsste nur mal zur Arbeit gezwungen werden, es wär‘ traurig. „Traurig“ ist sowieso einer der häufigsten Kommentare überhaupt. Das steht dann als Erstes oder als Letzes im Kommentar. „Traurig. Die Jugend…“ Oder erst die Meinung und dahinter dann „…,traurig“.
Es ist sehr traurig, dass die Menschen Pokémon Go spielen. Denn die Kommentarklause haben früher viel sinnvollere Sachen gemacht. Die sind sehenden Auges in Militärschutzgebiete gelaufen, um das Schießen zu sehen, absichtlich.
Die Kommentarklause sind auf Bäume geklettert! Überhaupt sind alle Kommentarklause früher auf Bäume geklettert. Das gilt als DIE Metapher für eine sinnvoll verbrachte Jugend: „Wir sind früher noch auf Bäume geklettert“.
Ich kann dazu nur sagen, in meiner Jugend haben die Jungen sich die Zeit damit vertrieben, Frösche aufzublasen, Laternen mit Steinen auszuwerfen, und Sprayflaschen in Lagerfeuern exlodieren zu lassen. Das war eine unglaublich sinnvoll verbrachte Jugend. Niemals vergleichbar mit der mutierten Jugend, die heute mit einem Handy durch die Gegend läuft und Pokémon Go spielt. Traurig ist das.
Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.
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