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Archiv-Artikel

DVDESK Durch die Tapetentür

Harry Kümel: „Daughters of Darkness“ (Belgien 1971). Zu beziehen als UK-Import für ca. 10 Pfund. Die vor zwei Jahren erschienene deutsche Luxusausgabe des Films unter dem Titel „Blut auf den Lippen“ ist antiquarisch nur noch zu recht exorbitanten Preisen greifbar

Der avancierte europäische Kunstfilm der sechziger und siebziger Jahre kennt seine Klassiker, von Michelangelo Antonioni bis Luis Buñuel, von Chantal Akerman bis Marguerite Duras. Das ist eine auf den ersten Blick beinahe übersichtliche filmische Szenerie. Sie bleibt das aber nur, bis man die Tapetentüren bemerkt, hinter denen, wer als Kunstfilmstar durch die eindrucksvollen Gänge der filmhistorisch bedeutsamen Werke wandelte, nicht selten verschwindet, um an etwas unheimlichen anderen Orten wieder aufzutauchen.

Man nehme die französische Darstellerin Delphine Seyrig. Alain Resnais’ „Letztes Jahr in Marienbad“, eine Inkunabel der filmischen Moderne, machte sie 1961 zum Star. Von Losey bis Buñuel, von Duras bis Truffaut findet man Seyrig in den folgenden Jahren auf vielen Prachtstraßen dieses Goldenen Zeitalters der europäischen Filmkunst. Unversehens spaziert sie dann aber eines Winters, wir schreiben ca. das Jahr 1970, schwer blondiert und mit roten Lippen im belgischen Nordseebad Oostende durch die Tür eines in sinistrer Weise verlassen daliegenden, von Wind, Wasser und Wetter umtosten Riesenhotels.

An ihrer Seite, als Gespielin oder Gehilfin mit schwarzem Haar, ein von ganz anderer Seite vertrauter Anblick. Andrea Rau (sie spielt diese Ilona) begann ihrer Karriere als freizügiges Fotomodell für die legendäre deutsche Satirezeitschrift Pardon, Vorgängerin der Titanic. Von da aus ging es auf die Titelseiten deutscher Illustrierter und in die Nebenrollen deutscher Fernseh- und Filmproduktion, wo sie zu einem der Sexidole der frühen Siebziger avancierte. Auch in „Daughters of Darkness“, dem Film, der in Oostende spielt, erscheint sie an der Seite Delphine Seyrigs seltener angezogen als nackt. Zum Gegenüber haben die beiden den später mit der TV-Serie „Cagney & Lacey“ mehr oder minder berühmt gewordenen US-Schauspieler John Karlen und eine sonst kaum hervorgetretene Darstellerin Danielle Ouimet.

Seyrig verkörpert eine veritable Wiedergängerin in der europäischen Geschichte der Gothic-Fantasien: die sowohl misogyn als auch feministisch wendbare ungarische „Blutgräfin“ Elisabeth Báthory, die um 1600 mehrere hundert Mädchen ihres frischen Blutes wegen ermordet haben soll. In Harry Kümels „Daughters of Darkness“ wird das Motiv in erstaunlich dezenter Weise ins Vampirgenre hinübergespielt. Gebissen wird dabei nämlich nicht, Blut fließt kaum, und das Allerröteste an dem Film ist die Kleidung Seyrigs (später aber auch discokugelhaft silberfunkelnd, alles vom unlängst verstorbenen Couturier Bernard Perris entworfen) und sind die satten Rotblenden, in die Kümel die Episoden immer wieder hineinlaufen lässt. Dazwischen liegen, eher atmosphärisch als schlüssig inszeniert, Szenen des Begehrens und der Anziehung und Abstoßung in wechselnder Gruppierung. Außerdem: englische Dialoge mit wild durch die Sprachen vagabundierenden Akzenten, Sex, Gewalt und zwischendrin ein bizarrer Auftritt von Harry Kümels Regiekollegen Fons Rademakers: Der spielt ein Telefongespräch lang im schwülen Ambiente die Mutter (!) des männlichen Helden. Norman Bates’ Schrumpfkopfmama sieht sehr blass aus dagegen.

Kümel setzt nicht im Dargestellten, aber in der Darstellung auf die grelleren Mittel des Siebzigerjahrekinos: die Detail-Großaufnahme mit nur bedingt motivierten Hin- und Wegzooms, eine Vorliebe für abrupte Schnitte, die den Film eher öfter als nicht aus dem Rhythmus bringt, genauso wie François de Roubaix’ ins Grobkörnige tendierende Geisterbahnatmosphärenmusik. Dennoch ist das Werk als oft faszinierendes Amalgam nicht immer ganz zielgerichteter Ambitionen völlig zu recht in den Status eines Kultfilms gelangt. Für die Gräfin geht das Ganze hier nicht so gut aus – filmgeschichtlich totzukriegen ist die Figur aber nicht: Nach Julie Delpys „Die Gräfin“ hat Ulrike Ottinger seit einiger Zeit einschlägige Pläne mit Tilda Swinton und Isabelle Huppert.

EKKEHARD KNÖRER