DVDESK : Deckname Greco
„Der Diplomat Stéphane Hessel – Ein Kinodoku-mentarfilm“. Regie: Antje Starost, Manfred Flügge und Hans Helmut Grotjahn. Deutschland 1995, ab ca. 12 Euro im Handel
Ganz zu sich kommt Stéphane Hessel auf der Bühne und beim Vortrag von Gedichten. Er bewegt sich auf den Straßen von Berlin und Paris als seinem Parkett, und es bedeutet die Welt. Sehr freundlich ist er und sanft.
Der alte Mann, der die kritische Jugend nicht nur in Frankreich mit seiner schmalen Streitschrift „Empört Euch!“ hinter sich scharte, entspricht nicht dem Klischeebild eines Empörers. Unzeitgemäß ist schon seine Sprache. Das Deutsch ist perfekt. Es klingt, angenähert an französische Sprachmelodie, so gepflegt und nach heutigem Gefühl überbetont wie aus dem Mund eines Schauspielers früherer Jahre. Man sieht ihn dann im Theater, er probt mit einer jungen Truppe. Man hört ihn beim Rezitieren von Gedichten. Nichts könnte natürlicher sein.
„Der Diplomat“ heißt der Film, den Antje Starost, Manfred Flügge und Hans Helmut Grotjahn bereits 1995 über ihn drehten. Der Titel trifft die Persönlichkeit, die man darin kennenlernt, sehr genau. Stéphane Hessel ist Diplomat seiner Natur nach und also ein weltläufiger Mann. Schon als Kleinkind gerät er ohne Zutun in eine Geschichte, die später Literatur und noch berühmter als Kinofilm wird. Sein Vater, der Berliner Flaneur und Autor Franz Hessel, überlässt, als die beiden sich ineinander leidenschaftlich verlieben, seine Ehefrau, Stéphanes Mutter Helen Grund, ohne Eifersucht seinem liebsten Freund Henri-Pierre Roché. Jahrzehnte später schreibt Roché darüber den Roman „Jules und Jim“, Truffaut hat ihn verfilmt. Aus Stéphane wird im Kino Sabine, die Grundkonstellation aber stimmt.
Während der Nazi-Okkupation Frankreichs geht Stéphane Hessel erst nach London, schließt sich dem Widerstand an und kehrt inkognito, Deckname „Greco“, zurück nach Paris. Er wird inhaftiert, in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert und überlebt, indem er mit Hilfe eines Kapos die Identität eines dort an Typhus verstorbenen Franzosen annimmt. Nach dem Krieg geht er zur UNO, wird Sekretär der Menschenrechtskommission und ist jahrzehntelang in vielen Missionen vor allem in Afrika unterwegs.
Er ist, wenn er erzählt, glaubhaft frei von allem Zynismus, und das, sagt er, muss man in dieser Position sein. Nicht das Gute, sondern nur das Bessere gilt es beim Verhandeln auch mit Despoten zu erreichen.
Naiv aber ist Stéphane Hessel nicht, und da schließt sich auch zu „Empört Euch!“ der Kreis. Die Streitschrift ist in ihren Analysen nicht originell, meist sogar schlicht; sie ist in manchem, etwa der scharfen Israelkritik, durchaus problematisch. Ihre Wirkung verdankt sich aber nicht nur der schieren Tatsache, dass da ein einzigartiger Zeuge des Jahrhunderts und ehemaliger Widerstandskämpfer spricht. Die Empörung wird gerade durch die Sanftheit des alten Mannes beglaubigt, der das Aufbruchspathos vollendet verkörpert, dem die Erklärung der Menschenrechte entstammt.
Es steckt in seiner Haltung die Radikalität des von seiner Sache überzeugten Diplomaten, der sich biegt, aber nicht bricht. Adressiert wird die Menschheit in dem, was ihr an Besserem möglich ist. Ihr Fundament hat diese Haltung in der Liebe zur Poesie, die für Hessel nichts Weltfremdes ist: In Buchenwald hat er still Paul Valérys „Le cimetière marin“ für sich rezitiert. Sein Repertoire reicht von Hölderlin bis zum Berliner Mundartgedicht. Natürlich ist das aufs Äußerste unzeitgemäß. Es wird die Menschheit nicht an Lyrik genesen. Wie aber im Moment der Krise die Stunde des Unzeitgemäßen schlagen kann, das macht dieser Dokumentarfilm aus der Perspektive von Hessels spätem Ruhm sehr plausibel.EKKEHARD KNÖRER